Ruhelos

Die Zeit fließt natürlich, unempfindlich gegenüber den größeren oder kleineren Dramen dieser vergänglichen Existenzen. Vögel setzen ihren Flug fort, der Wind wiegt Bäume, Blätter, Wolken, Gedanken. Die Menschen sind kleinlich, alle mit den Angelegenheiten beschäftigt, die ihre gesamte Existenz ausmachen.  

Vom Fenster aus ist alles wie ein Ameisenhaufen in ständiger Bewegung. Zu klein für dieses große Universum, zu gebeugt unter den Kreuzen, die sie tragen, ohne zu wissen, dass es manchmal in Ordnung ist, sie ein wenig beiseite zu legen, nur um Luft zu holen, damit sie weitermachen können.

Wir kämpfen darum, Ziellinien zu erreichen, die zufällig durch persönliche oder „geliehene“ Ambitionen bestimmt werden. Wir rennen, manchmal rennen wir zwischen den Momenten, wir vergessen, nein zu sagen, wir vergessen zu lächeln, wir vergessen zu genießen, zu lachen, zu umarmen, in den Himmel zu schauen und der Stille zu lauschen.

Wir gönnen uns keine Pause, um zu fühlen, unseren Kummer zu betrauern, unsere Gedanken und Herzen auszuruhen, zu lieben, zu LIEBEN. Wir sagen trocken: „Wir haben keine Zeit“ und kämpfen jedes Mal mit der gleichen Wildheit gegen das Leben an, das uns nur Mühsal gebracht hat, wie Omi Elke sagte.  Und wir vergessen, dass wir tatsächlich so lange mit gesenktem Kopf umher rannten, dass wir uns nicht erlaubten, unsere Augen zum Licht zu erheben.

Und irgendwann stellen wir überrascht fest, dass „unsere Zeit abgelaufen ist“! Wir suchen verzweifelt nach einem Rückspulknopf und würden alles geben, um das zurückzugewinnen, was wir verloren haben: Jahre, Menschen, Chancen, Freuden.

Für sie ... ist die Zeit heute stehen geblieben, für alle anderen fließt sie jedoch mit der gleichen Schnelligkeit, unmerklich und unnachgiebig vorwärts. Für sie spielte das Schicksal (wenn es so etwas gibt!) seine letzte Karte und überraschte sie. Oder vielleicht erteilte sie das Schicksal, um ihr eine letzte Lektion, wie eine Ohrfeige zu erteilen. Oder vielleicht ist es einfacher zu sagen, dass das Leben seinen Lauf genommen hat, die Dinge so zu nehmen wie sie sich zeigten und wollte nichts daran ändern. 

Ich erinnere mich an Geschichten,  an Ereignisse, Diskussionen, Momente. Ich weiß, was sie möchte und vor allem, was sie jetzt NICHT möchte, und ich fühle mich irgendwie hilflos, dass ich nicht anders kann. Ich denke, dass ich oft nicht ihr Freundin genug war oder sie vielleicht nicht genug verstanden habe. Dass ich nicht wusste, wie man über Worte hinaus zuhört, und vielleicht urteilte ich statt einer Umarmung. Dass ich seinen Schmerz hinter der Maske nicht gesehen habe oder dass ich nicht aufmerksam genug war, um einen ihrer letzten Wünsche zu erfüllen. Aber ja, Omi Elke ist eingeschlafen. Einen Schlaganfall im Schlaf. 

Ich wunderte mich, dass die Rollläden an den Fenstern noch unten waren. Sie sagte uns immer  einen Tag vorher, wenn sie einen Termin hatte, oder zum Einkaufen fuhr. Und sie brachte den Kindern immer eine Kleinigkeit mit. Immer. 

Ich fühle heute mehr denn je, ihre allererste Umarmung, wie mein Vater sie uns als seine Freundin vorgestellt hatte. Sie war mir eine zweite Mutter. Und wie sie sich immer für uns und auch bis zuletzt für meine Kinder eingesetzt hat. 

Am Abend zuvor ging es ihr gut. Sie hatte sich eine neue Jeans gekauft und wir haben so gelacht als sie "reinhüpfen" könnte. Meine Tante hat ihr die Jeans dann passend genäht. Sie aß noch mit uns Kümmel-Salzstangen die mir besonders knusprig und blättrig gelungen sind. Gegen  20:00 Uhr ist sie dann nach Hause.  Sie wollte unbedingt eine  Serie auf Netflix streamen. Renė hat ihr noch alles am TV eingestellt. 

" Manchmal schaue ich die ganze Nacht " schwärmte sie.

Omiii schlief am 25. April,  einen Tag vor ihrem 72 Geburtstag ein.  

Ich und alle meine Lieben werden sie in meinen Gedanken zu tragen und sie in unseren Erinnerungen weiter leben.