2015 Freundschaftswege trennen sich oft

Ein Kommilitone und ich. Wir saßen in unserem Stammbistro. Es war kein Rendez-vous. Wir waren weder gute Bekannte, noch waren wir Freunde. Wir kannten uns von den Vorlesungen.

Es setzte sich einfach zu mir ohne zu fragen ob er sich zu mir setzen darf und bestellte sich einen Cappuccino und ein Stück Pizza mit Salami und ganz viel Käse. Ich hatte schon einen Espresso, und wollte nur noch mein Sprudel austrinken und gehen. 

"Möchtest du noch etwas trinken?" fragte er. Ich verneinte und sagte ihm dass ich noch das Wasser austrinken und gehen möchte.

Er sah mich an, als würde er mich mit den Augen verschlingen wollen. 

"Du siehst traurig aus." sagte er. "Aber es steht dir gut."

"Ich finde niemand sieht gut aus wenn er traurig ist." erwiderte ich. Ich war gar nicht traurig. Ich wollte nur seine Gesellschaft nicht. Ich wollte nur ein wenig vom Unitag abschalten, bevor ich nach Hause fahrem um da weiter zu lernen. 

Ich musste nach so vieler Flüssigkeit die ich zu mir genommen hatte dringend pinkeln. Ich stand auf und ging auf die Toilette. 

Er kam mir nach. Es war eine Unisex-Toilette.  Diese schienen immer  üblicher zu werden in Cafe`s, Bistro's und auch schon wo anders. Keine gute Idee, aber so sparen die Gastronomien Platz. Er nahm mich in die Arme, drückte mich ganz fest an sich und küsste mich. 

Ich starrte ihn erschrocken an.  Ich fühlte sein Begehren. Ich hatte noch nie Sex auf einer Toilette. 

Einen Augenblicksgedanke löste sich und für einen Augenblick lang wollte ich es tun. Was solls, dachte ich. Ich will es wissen, was bei  einem Toilettenfick so abgeht. Das gehört zu emotionalen und sexuellen Entwicklung dazu, oder nicht? Eine einmalige Sache. Einmalig sein Leben verlassen, ein einziges Mal sich an eine fremde Haut pressen, ein einzges mal fremde Lippen küssen und mit brennender Haut wieder in sein bisheriges Leben zurückzukehren, als wäre nichts geschehen. Soll ich ohne das Wissen sterben wie es ist, sich einmalig in den Blicken des anderen zu spiegeln? 

Im nächsten Augenblick erschrak ich über meinen Augenblicksgedanke. Aber doch nicht mit ihm, den ich nur flüchtig kannte. Ich sah auf seine Hand, auf seine Finger, die ein Komdom hielten. Schlagartig befreite ich mich aus seinen Armen, sah ihn wütend an und rannte weg. Ich wurde auf einmal sehr traurig. Ich hörte manchmal von Freunden, dass sie sich ab und zu einen One-night-stand gönnen. Wieso kann ich so etwas nicht tun, fragte ich mich.

Ich zog meine Jacke von der Stuhllehne, drehte mich mich um und wollte gehen. Er stand hinter mir und sah mich verwundert an.

"Ich dachte du wolltest es auch," flüsterte er.

"Ich wollte dahin um zu pinkeln, du Idiot!" zischte ich ihn an. Ich rannte so schnell ich konnte, rannte um die Ecke wo ich mein Auto geparkt hatte. Er rannte mir nach und entschuldigte sich immer wieder.  Ich stand  kurzatmig und bewegungslos da und konnte nichts sagen.  Völlig übertriebene und bescheuerte Reaktion meinerseits. 

"Atme, hörst du mich?" redete er auf mich ein. "Einatmen, 1,2,3 ausatmen und noch mal.....? 

"Ich weiss, dass du mich zu nichts gezwungen hättest. Es ist....so...ich kenne es so nicht....es hat mich..... ich ....es war etwas peinlich...nebenan macht jemand Pipi .....ein Strahl wie ein Wasserbüffel und wir knutschen.....ist das ekelig nicht abartig ekelig für dich? Du tust so etwas sehr oft nehme ich an, weil deine Hemmschwelle .....du bist abgestumpft."

Meine Premiere....meine Premiere... wie peinlich war das denn, einem Mann nicht gewachsen zu sein, bei all meiner sportlichen Kondition. Die Angst hatte mich gelähmt. Ein Ekelgefühl überwältigte mich. Ich bringe mich nie wieder in so eine Situation.

Ich fühlte mich sooooo erniedrigt und während ich es so leicht abtat,  hätte ich mich am liebsten verkrochen, mich aufgelöst, mich unsichtbar gemacht für jeden Mann.

Am nächsten Tag traf ich ihn in der Vorlesung wieder. Er grüßte mich, als wäre nichts geschehen. Ich grüßte im kopfnickend.
"Sorry nochmal!" sagte er leise
"Welchen Teil hast du nicht verstanden? Wie hätte ich mich ausdrücken sollen? Dass ich aufs Klo gehen wollte hast du nicht verstanden?"
"Ja, direkt." sagte er ganz merkwürdig.
" Hast du sie nicht alle?" sagte ich etwas lauter und huschte an ihm vorbei. Er kam mir nach. Was befürchtete er? Dass ich es herumerzähle. So bescheuert bin ich auch wieder nicht. Er widerte mich an. Als Mensch, als Mann, als alles was ihn verkörperte. "Es war direkter als direkt. Ich wollte pinkeln und gehen. Was ist daran denn indirekt? Vögelst du immer wo du pisst und scheisst?"
"Es fühlte sich wie eine Einladung an." rechtfertigte er sich.
"Pass mal auf, du Idiot. Mag sein, dass ich eine Panikattacke hatte, weil ich mich überrumpelt fühlte, aber jetzt sage ich dir dass dein Verhalten, auch wenn du dich zig mal entschuldigst dich als Mann degradiert."


"Was zum Teufel passiert gerade mit mir?"dachte ich. "Wieso gehe ich allein aus? Anscheinend ist eine Frau Freiwild wenn sie allein unterwegsist oder allein in einem Bistro sitzt. Ich habe mit ihm nicht geflirtet. Ich habe ihm kein Zeichen gegeben mir zu folgen, sondern ich habe meine Zeche bezahlt und wollte gehen. Wieso musste ich überhaupt noch schnell aufs Klo rennen? Auch wenn ich dringend Pipi musste, hätte ich es am besten einhalten sollen Auf fremde Toiletten gehe ich eh nur wenn es sehr dringend ist.

Ich setzte mich auf meinen Platz und folgte der Dozentin. Sie war gut. Sie konnte jede Schlafmütze mitreißen ihr zu folgen.
Ich machte mir Notizen, stellte jede Menge Fragen, deren Antwort ich schon längst kannte.
Als die Vorlesung zu Ende war und es um mich herum lauter wurde, Kommilitonen ihre Sachen zusammenpackten und an mir vorbei gingen, mir grüßten, 
mich anluden mitzukommen, ich dankend ausschlug, fuhr ich nach Hause.

Ich fuhr jeden Tag nach der Vorlesung nach Hause. 
Obwohl er sich entschuldigt hat, wollte ich mit ihm nichts mehr zu tun haben.
Ich lehnte jede Einladung von Freunden ab, ignorierte fast alle Anrufe. 
Ich stritt mich mit Fabian, weil er mich immer wieder mit irgendeinem Kumpel, Freund, Kollegen vekuppeln wollte.
"Du musst loslassen!" beschwörte er mich.
"Ich habe schon längst losgelassen. Ich hatte ihn lange vor der Trennung losgelassen." schrie ich Fabian an. "Ich will nur noch die Scheidung. Ich habe nur keine Lust mich mit dem nächsten Milchbubi zu beschäftigen. Männer sind die neuen Frauen. Sie schwärmen gleich vom heiraten und Kinderkriegen. Und wenn sie nicht jeden Wunsch von den Augen abgelesen bekommen, wird es ihnen schnell langweilig und stürzen sich in Affairen."
"Nicht jeder Mann ist wie er," verteitigte Fabian die Männer. "Und er wollte doch keine Kinder, oder doch?"
"Er wollte keine. Das ist der Punkt. Er hat an meiner Verhütung gezweifelt. Er hat an allem gezweifelt. 
An Allem was er bis anhin nicht kannte. meine Spontanität, meine Wildheit, alles Neue. Sei es ein neues Essen, das er nicht kannte.  Das führte zum Streit. Ich war anders für ihn. Ich war nicht gut für ihn sondern anders. Eine freie Radikale die ihn verändern wollte. Er brauchte jemand die nach seinen nicht veränderbaren Wünschen mit ihm lebt. Ich konnte das nicht. Ich will so etwas nicht. Ich will mich gemeinsam verändern mit dem Menschen den ich liebe und der mich liebt. Was rede ich mit meinem Bruder über mein Eheleben, Sexleben und überhaupt über mein Leben?" schrie ich.
"Ich habe dich nicht aufgefordert. Ich habe dir zugehört. Aber du igelst dich ein. Du verbringst deine ganze Freizeit zu Hause. Andere Frauen in deinem Alter würden jeden Abend ausgehen, sich umsehen, den einen oder anderen Kerl abschleppen oder sich neu verlieben."

"Sollte ich das? Jeden Abend einen Kerl anschleppen?"
"Gott bewahre, nein! Aber dein Leben genießen, indem du mit Freunden etwas unternimmst." sagte er.
"Du meinst mit unseren gemeinsamen Freunden, damit du mich im Auge hast?"
"Du hast kaum eigene Freunde," stellte er fest. "Zumindest kenne ich nur eine und die ist nicht hier in der Stadt."
"Wieso ist es dir so wichtig ob ich Freunde habe oder nicht? Hast du mich gefragt ob ich überhaupt noch welche haben möchte zu den einigen die ich habe? Die Freunde die ich habe reichen mir vollkommen. Ich bin nach dem Dienst und nach den Vorlesungen so ausgelaugt, dass ich gerne allein sein möchte. Ich habe jeden Tag, jede Menge Menschen um mich herum. Noch mehr brauche ich nicht. Aber du brauchst immer welche um dich herum, die dich von deiner eigenen Misere ablenken. schrie cih weiter.
"Du brauchst einen Freund. Einen Lebenspartner. oder willst du nie heiraten, Kinder bekommen? fragte er mich.  "Kannst du aufhören zu schreien. ich will mich mit dir gar nicht streiten. "
"Alles hat seine Zeit. Wieso ist denn Sex so wichtig? Ist er überhaupt der Schlüssel zu Allem? ist er so entscheiden über ein Leben?. Ich rede mit dir über mich. Was zum Teufel ist mit deinem Leben?
Ich mache dir keine Vorwürfe über dein Eheleben, oder über dein intimes Leben. Wer gibt dir das Recht mich danach zu fragen?"
"Ich habe Angst um dich. Du ziehst dich von Allen und von der Welt zurück."
"Weil ich müde bin. Weil ich nicht gemerkt habe, dass meine Ehe zu Ende war, eher sie begonnen hat. Dass ich mich kopfüber verliebt habe und nicht gemerkt habe, dass wir gar keine Gemeinsamkeiten haben. Ich will mich auf eine andere Art in einen Mann verlieben, ihn anders lieben als nur auf purer Sexebene." sagte ich und dann fiel mir eine Frage in den Mund.
"Hattest du schon Sex auf dem Klo? Nicht zu Hause und nicht mit ihr, sondern mit irgendeinem Mädchen?" Gefragt ist gefragt.
"Bitte was?" fragte er erstaunt. "Was soll das jetzt?"
"Was nur eine harmlose Frage." redete ich mich heraus.
Mehr zu sagen traute ich mich nicht, denn er hätte mich regelrecht verhört und nicht locker gelassen, bis er nicht alles darüber wusste.
"Wie kannst du nur dich so gehen lassen? Dich benutzen lassen? schrie er.
"Stopp! schrie ich zurück. "Ich tue es nicht. Ich benutze niemanden und lasse mich nicht benutzen. Ich habe es nur mitbekommen."
Er wurde hellhörig und neugierig und zerquetschte verbal mich fast für jedes Wort.
"Wenn er es bei dir versuchte, tut er es nicht zum ersten und wird es auch nicht zum letzten Mal tun." belehrte er mich. Er fühlte sich für mich verantwortlich und ich habe ihn beunruhigt. "Wenn du Angst hast, solltest du etwas gegen ihn unternehmen." 
Ich unternahm nichts. Ich sah ihn oft in Vorlesungen, irgendwann redeten wir auch wieder miteinander, gingen miteinander ins Bistro, wurden sogar gute Freunde. Ich tanzte mit ihm sogar beim Abschlussball nach dem Facharztexamen. Über das Klodesaster lachten wir. Ich heiratet, rr nahm eine neue Stelle an, zog um und lernte schnell jemanden kennen und wie es so ist, wenn man jemanden kennen lernt, bleibt die Freundschaftsplege auf der Strecke. Er bekam mit dass ich in Scheidung lebte, dass es mit Lars ernst wurde. Manche Freundschaftswege trennen sich oft für immer. Unsere trennten sich für immer.


Ich starrte auf die Photos vom Abschlussball. Wir sahen aus wie veträumte Teenager, obwohl wir uns den 30ern näherten... wir waren noch lange nicht reif  für Beziehungen oder sogar für eine Ehe.  
Ich ging an meinen Kleiderschrank, enthüllte mein Ballkleid und zog es an. 
Es passte wie angegossen. Ich muss heute kein Push up BH mehr darunter tragen wie damals und glätte meine Haare nicht mehr um stylish up date zu wirken. Ich bin erwachsen geworden  natürlicher, habe meinen eigenen Stil. Ziehe gerne Kleider an, Jeans und schminke mich nach wie vor gar nicht.

Wir das Leben einem doch verändert.










Nichts bleibt immer gleich

 Nach einer ganzen Woche Nachtdienst in der Notaufnahme und nach unzähligen Stunden die ich damit verbrachte das Administrative der Praxis zu erledigen, habe ich es mehr als verdient mir ein ruhiges Wochenende zu gönnen. Aber es ist Erntezeit und alle haben ebenso die Hände voll zu tun wie ich. Also vergesse ich schnell meinen Gedanken an ein ruhiges Wochenende.

Heute Morgen fiel ich in mein Bett und schlief ganze fünf Stunden durch. Ich habe mich aus der Haut der Woche, geschält wie Zellen in einer Apoptose. Die Woche schälte sich stückweise von mir ab und ich fühlte dass es bis in die Knochen kribbelte. Wenn es nach meinen Füßen ginge, würden sie noch einen Marathon hinter sich bringen, aber meine Augen und mein ganzer Körper wollten nur noch schlafen.

Ab Montag endlich, haben wir zwei Wochen gemeinsamen Urlaub. Wir fahren am Montag früh für eine Woche ans Meer. Anscheinend hat mein Körper das schon als Seelennährstoff  bis ins Knochenmark gespeichert und entspannte sich. Endlich konnte die Woche hinter mir lassen, die Gedanken an die Praxis abschalten. Nach einem ausgiebigen Bad legte ich in mein Bett und schlief ich auch sofort ein. Die ganze Woche konnte ich nicht richtig abschalten und durchschlafen. Obwohl es hier tagsüber sehr ruhig ist die Mädels und Nils sich bei ihren Omi's aufhalten und ich sie in guten Händen fühle, schlief ich unruhig, wachte ich jast jede Stunde auf, sah immer wieder auf die Uhr. Nachmittags kümmerte ich mich um die Dienstpläne, Materialbestellungen, machte die Unterlagen für die Buchhaltung fertig, damit die Belegschaft ihren Gehalt pünklichst auf dem Konto hat.

Heute Morgen schlief ich in der Badewanne ein. Erst als ich fror, da das Wasser kalt wurde und ich im Schlaf mich zudecken wollte und über meine nassen Hände erschrak, hüpfte ich aus der Badewanne. Ich war schneller im Nest als ich logisch denken konnte und schlief sofort ein. Also war ich müder als ich mich fühlte.

Ich träumte von einem roten Fahrrad. Maman's Fahrrad. Sie hatte sich den Weidenkorb extra anfertigen lassen. Der Rand war wesentlich höher als bei den handelsüblichen Körben. Im Traum sah ich jemanden damit fahren. Ich erkannte nur minimale Körperumrisse. Aber das Fahrrad sah ich sehr deutlich. Rubinfarben leuchtete das Fahrrad im Morgennebel. Wieso dieser Nebel, dachte ich. Wieso rubinfarben? Das Fahrrad ist eher kirschrot mit silberfarbenen Schutzbleche. Ich rannte im Traum hinterher. Wer fährt da, fragte ich mich immer wieder, während ich rannte. Ich hüpfte sogar über umgefallene Bäume. Der Nebel verschluckte das Fahrrad. Wieso renne ich barfuß, fragte ich mich und wollte nachsehen wie meine Fußsohlen aussehen. Dann wachte ich auf.  Ich sah um mich herum. Ich bin in meinem Bett. Ich drehte mich um und wollte zurück in den Traum um ihn weiter zu träumen.

Wieso schlich sich Maman's rotes Fahrrad in meinen Traum? 

Vielleicht weil Tante über Traubenlese sprach und René und Lars und ich heute in den Weingarten fahren um Melonen und noch anderes zu  ernten. Jahrelang hat niemand dieses Fahrrad beachtet, weil niemand seit.....die Hütte richtig genutzt, belebt und darin so richtig gelebt hat.

Als Kind habe diese Hütte geliebt. Ich hätte am liebsten darin gewohnt. Ich brauchte nie viel um mich herum, außer die Natur und Menschen die ich liebe. So ist es bis heute.

Mein Handy vibrierte als mich eine neue Nachricht erreichte. 

"Bin gleich bei dir! Habe ich dich geweckt? Bis gleich Wirbelwind. Freu mich auf dich." 

Ich sah auf die Uhr. Wir haben 15:31 Uhr. Lars hatte Wochenenddienst in der Notaufnahme. 

Und ich bin immer noch müdeeeee. Was für eine harte Woche.....Aber ich muss mich gartenferig machen und auf die Schnelle einiges vorbereiten. Es wird knapp, dachte ich und hüpfte aus dem Nest. 

Und die Mädels kamen angerannt. Lars sah sehr erschöpft aus. Aber wegen Zoé wollte er mit, damit er auf sie aufpasst. Ohne die Mädels bleibt Zoé nirgendwo. 

Mich hat die Hütte am Rand vom Weingarten nie so richtig interessiert. Opa hatte sie noch gebaut. Sie besteht aus einem Zimmer und einer Veranda. Und hinter der Hütte ist ein kleines Gerätehäusschen. 

Über zwei Jahre lang wollte sich Oma nicht entscheiden was mit dem Weingarten geschehen soll. "Soll er doch verwildern. Lasst ihn verwildern." Sie benahm sich wie ein stures Kleinkind. Ihr Herz und ihre Gedanken waren voller Trauer  und suchten sich einen Schuldigen für Maman's Tod. Mein Stiefvater hatte die Aufgabe auf sie gut zu achten. Dann ging Fabian auch noch und ich war daran schuld weil ich nicht auf ihn aufgepasst habe. Oma war nicht mehr sie selbst. Als Maman ging, verfiel sie in eine Schockdemenz. Irgendwann erstellte sie im Wohnzimmer ein regelrechtes Altar mit Bilder von ihr und Kerzen und mit immer frischen Saisonblumen. Als Fabian ging, verfiel sie in eine tiefe Depression und gleichzeitig in eine Demenz. Sie kochte nicht mehr, die Vorräte im Kühlschrank überreichten ihr Haltbarkeitsdatum. "Ich will nichts. Ich habe keinen Hunger."  Kurze Zeit danach verwechselte sie mich mit Maman und behandelte mich wie ein kleines Mädchen. Sie schrie mich sogar an, wenn ich nicht das tat, was sie sagte. Sie gab mir Haarpflegetipps und jede Menge Tipps wie ich meine Haut zu pflegen habe. Die meisten kannte ich schon von Maman. Einen Schuss Apfelessig auf ein Liter Wasser und damit sollte ich meine Haare spülen. Tatsächlich wurden meine Haare dadurch weicher und glänzender und die Locken sprangen regelrecht auf. Ein Sud mit Wasser und Walnussblättern für Frische.....Natron für die Nägel und ein Fußbad mit Wasser Natron und Apfelessig für Fußpflege. Oma pflegte sich bis zu ihren letzten Tagen. Ihre ganze Logik verwendetete sie dafür zu sorgen dass sie "sauber" ist wie sie zu sagen pflegte.

Als das Emotionale noch sehr mit Logik durchwachsen war, gab sie uns die Schuld für alles. Jeder von uns und alles um sie herum bekamen eine Teilschuld daran. Ich bekam einen großen Teil davon ab. Als sie anfing nachts umherzurennen, die Schränke auszuräumen, um irgendetwas zu suchen, wussten wir, dass sie nicht mehr allein bleiben darf. Dann ging ihre älteste Tochter, meine Patentante. Sie bekam es kognitiv nicht mehr mit. Eines Morgens weigerte sie sich aufzustehen, sich für den Tag zurecht zu machen, ihre graumelierten langen immer noch lockigen Haare zu einem Zopf flechten zu lassen. Opa liebte ihre Haare. Meine Tante schnitt den Zopf ab, verpasste ihr einen undefinierbaren Haarschnitt und gab ihr Medikamente die ihr ihre Hausärztin verschrieb. Oma schlief immer länger, verschlief ihre ganze restliche Zeit.

Wenn ich sie besuchte, blickte sie mich mit verschlafenen Augen an und bat mich für sie zu singen. Dann sang sie Kirchenlieder die ich noch nie gehört habe. Meine Tante kochte ihr Suppe. Hühnersuppe an der Oma sich immer wieder verschluckte und alles heraushustete. 

"Komm hilf mir, ich kabe keine Kraft mehr." rief Tante mich an. Doch ich bekam so schnell keinen Urlaub. Es vergingen vier Tage bis ich endlich fahren konnte. Lars begleitete mich und wir verbrachten jede Minute an Oma's Seite. Sie aß artig ihre Suppe, aß genüsslich ihren mit Suppe verdünnten Kartoffel-Karotten-Hänchen - Brei und verschluckte sich nicht. "Stell das für Opa warm" sagte sie und schob das Schüsselchen zur Seite. "Aber ja!" beruhigte ich sie, weil sie Angst hatte, dass Opa nichts davon abbekam. Opa war schon lange nicht mehr da. Das schien sie vergessen zu haben.

Sie lächelte wenn ich sie gutenacht küsste und eines Morgens waren ihre Hände, ihre Wangen und ihr ganzer Körper kalt. Sie lag da wie ein altes friedlich schlafendendes Baby.

Ce jour où j'ai oublié qu'il y n'avait pas une pellicule dans l'appareil... L'oubli est une chose étrange et difficile, une angoisse de l'âme, un film qui as pris la lumière et puis s'est effacé..

Um den Weingarten und die Felder nicht zu verlieren bezahlte ich die Jahrespacht und laut neuem Pachtvertrag  gehörte es offiziell mir. Ich habe nur eine vage Ahnung von Weinreben und Wein. Mein Stiefvater blieb stur. Er erinnerte sich dass Maman den Weingarten liebte und sie Melonen und Kürbisse und Beeren zwischen die Reben setzte. Aber er wollte den Weingarten aus Prinzip nicht.

Dieses Jahr überwies mir René die Pacht. Wir haben alles zu einem gemeinsamen Projekt gemacht. Er hat Hausputz gemacht und ein paar ausrangierte Möbelstücke ins Zimmer gestellt. Einen Grill gekauft und den Pumpbrunnen gestrichen. 

In einer Ecke des Zimmers stand noch das Fahrrad von Maman. Sie konnte  schon ein Jahr vor ihrem Tod diese lange Strecke nicht mehr Fahrrad fahren ohne drei viel Pausen einzulegen.

René hat das Fahrrad poliert und es sieht fast aus wie neu. Und ich kann es nicht einmal berühren. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich fühle ihre Hand auf meiner, wenn ich es berühre. Das fühlte ich lange Zeit bevor wir die Praxis umbauten auch.

Normalerweise ziehen Fahrräder Feuchtigkeit aus und bekommen Flecken. Ihres blieb so wie sie es stehen gelassen hat.

Pá erzählte uns, dass sie ihn anrief sie abzuholen, denn sie hätte jede Menge Ernte die heimgefahren werden müsste. Als er eintraf saß sie am Verandatisch und fror. Seit 2012 steht das Fahrrad also da und es sieht aus als hätte sie es erst ausgepackt. 

Tante hat sich einen E-Roller von Xiaomi gekauft. Eine 73 Jahre alte Frau und ein E-Roller zieht alle Aufmerkramkeit auf sich. Und ihr Fahrstil nicht minder. Zum Glück nur auf dem Feldweg. Noch....

Man muss mit der Zeit gehen......Nichts bleibt immer gleich. Das Leben hat auch seine Teilchenphysik. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Herz sie nicht anerkennen will und ich nicht mit der Zeit gehe, sondern hänge irgendwie fest. Pá, so habe ich das Gefühl, löst sich immer mehr von der Familie. Er fährt oft in die Stadt, kommt am späten Nachmittag nach Hause, macht seine Hausarbeit und zieht sich zurück. Er war heute auch nicht bei der Ernte dabei. 

"Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er hier alles aufgiebt und in die Stadt zieht." spekulierte Tante. Pá sprach mit uns nie über sein Leben ohne Maman. Sein Gefühlsleben war für niemandes Ohren bestimmt. "Ob er eine Freundin hat?" spekulierte Tante weiter. "Der Kerl war schon immer etwas eigenartig. Ich mache drei Kreuze wenn der endlich hier weg ist."

"Nur weil nicht jeder mit dir über sich redetet?" regte René sich auf.

"Das ist auch so einer!" keifte Tante und zeigte auf René. René redet nicht mit jedem über alles. "Hast jetzt endlich eine neue Freundin? " René winkte lächelnd ab.

Sogar sein Geflügel hat er uns überlassen. "Schlachtet es oder verkauft es. Ich muss mein Leben leben, bevor es zu Ende ist."  Manchmal übernachtet er auch in der Stadt. Wir stellen keine Fragen. Er würde sie eh nicht beantworten. Wir verstehen ihn nicht und vermissen ihn sehr. Irgendwann muss man aber loslassen. Und er brauchte vielleicht jemanden, die ihm gezeigt hat wie man loslassen kann. Es ist nie das Ende der Welt, nur das Ende eines Lebens. Er sagt es uns noch nicht, da er denkt wir würden es ihm für übel nehmen. Ich nehme ihm es nicht übel, ich wünsche ihm dass es sein Glück noch einmal findet.

Und Pá ist noch sehr rüstig und auch für sein Alter noch sehr gepflegt und attraktiv. Vielleicht ist ihm eine neue Frau begegnet und er hat sich verliebt. Oder aber er liebt sie sogar. Liebe ist immer anders und oftmals wird die neue Liebe als noch einzigartiger, noch intensiver und noch tiefer empfunden.

Loslassen ist kein Verlust. Das Leben ist nicht da, um sich selbst darin aufzugeben. Ein Herz-E-Roller für den Herzfortschritt ziehe ich immer in Betracht. Einen anderen auch, aber wenn ich bedenke, dass er nicht unbedingt nützlich ist.  Fortschritt ja, aber nur etwas was mich seelisch und gedanklich fördert und fordert und herausfordert.

.....Es gibt immer noch Traurigkeitsaugenblicke die mich bis in den Schlaf begleiten. Sie werden immer seltener aber der eine oder andere Impuls rufen sie unberwusst hervor. 







Absurdité

 Es war wie der erste Augenblick, nachdem ein Lied mit dem letzten Akkord, mit dem letzten Ton, nach dem letzten Wort zu Ende ist. Der erste Augenblick vor der ohrenbetäubenden endlos gefühlter Stille. Der Augenblick in dem die Welt aufhörte sich zu drehen und ich mich ebenso endlich fühlte, als wäre alles Leben aus mir verflogen. Herausgeflogen wie ein im Käfig gefangener Vogel. Ich wollte noch einmal einatmen. Der letzte Atemzug vor dem Ende der Welt.

Es regnete als hätte der Himmel all seine Tränen in einer Wolke gesammelt um über die Welt zu weinen. Und über mich.

Doch urplötzlich kam das Leben in die Welt zurück. Als würde die Natur instinktiv wissen wie es geht, das Leben zurück zu erobern. Die Frühlingssonne schien, die Vögel zwitscherten in den knospenreichen Bäumen. Nur ein Leben hat heute seine Endlichkeit, wurde mir bewusst. Man breitete diese Endlichkeit vor mir aus, damit ich sie noch sehen kann bevor der Himmel sich über sie legt und flüstert: "lass uns gehen du und ich."

Manchmal denke ich zurück an diese friedliche und zugleich beängstigende Stille, an die damals stillstehende Zeit. Ein stiller Augenblick ohne jedes Leben.

An deinen Arm der sich um meine Schultern legte, der mein ganzes Ich umarmte, umrahmte und mich wärmte, wie die Frühlingssonne den Himmel wärmte und die Regenwolke verscheuchte. Eine majestätische unbeschreibliche Geste in der stillstehenden Zeit in der alles Leben herausgeflogen war und alles düster, kalt und leer wurde.

So viele Augen auf mich gerichtet, so viele Ohren die sich dehnten und immer größer wurden, nur um mich weinen zu hören, schreien zu hören. So viele Erwartungen die mich zusammenbrechen erleben wollten. So viele Absurditäten in den Wünschen der Menschen auf einmal.

Anscheinend kennen sie diese Stille nicht, wenn die Welt still steht und alles Leben weicht. Und ich kann sie nicht einmal verständlich erlebbar beschreiben.  Sich wie die Natur zu verhalten, muss der Mensch erst erlernen. Auf seine Instinkte zu hören, wenn alle Absurtitäten der Schauneugierigen so lebendig sind. Ich sammle keine Absurditäten um mich herum. Ich habe keine Vitrine dafür in meinem Herzen. Ich vermisse mein Ich, wenn ich mich hinter unnötigen Worten verliere, wenn ich mich in die Köpfe anderer versetze, um die Gründe zu verstehen. Ich vermisse mich selbst, wenn ich nicht auf meinen Atem höre, wenn ich Sklavin von Gewohnheiten, Ritualen werde. Man kann nur lernen den Schmerz mitzufühlen, indem man seinen eigenen Schmerz fühlt. Mehr kann man nicht tun.

Ich war noch lange in dieser Stille gefangen und meine Natur war nicht bereit den erwartenden Augen zu zeigen was sie sehen wollten - mein Ich als die Welt sich nicht mehr drehten und alles Leben verflog.

Deine Umarmung führte mich zurück ins Leben. Deine Hand wischte die Regenwolke vom Himmel und deine Liebe malte die Sonne ins Himmelblau. In deiner Umarmung wurde ich lebendig und ich fühlte meinen Schmerz. Du hast mich durch das Vermissen begleitet, wie durch einen dichten uns unbekannten Dschungel. Du hast mir auf deine Art gezeigt, was das Leben noch viel mit mir vor hat.



Das solltest du noch wissen, falls ich es noch nicht gesagt habe.