Nichts bleibt immer gleich

 Nach einer ganzen Woche Nachtdienst in der Notaufnahme und nach unzähligen Stunden die ich damit verbrachte das Administrative der Praxis zu erledigen, habe ich es mehr als verdient mir ein ruhiges Wochenende zu gönnen. Aber es ist Erntezeit und alle haben ebenso die Hände voll zu tun wie ich. Also vergesse ich schnell meinen Gedanken an ein ruhiges Wochenende.

Heute Morgen fiel ich in mein Bett und schlief ganze fünf Stunden durch. Ich habe mich aus der Haut der Woche, geschält wie Zellen in einer Apoptose. Die Woche schälte sich stückweise von mir ab und ich fühlte dass es bis in die Knochen kribbelte. Wenn es nach meinen Füßen ginge, würden sie noch einen Marathon hinter sich bringen, aber meine Augen und mein ganzer Körper wollten nur noch schlafen.

Ab Montag endlich, haben wir zwei Wochen gemeinsamen Urlaub. Wir fahren am Montag früh für eine Woche ans Meer. Anscheinend hat mein Körper das schon als Seelennährstoff  bis ins Knochenmark gespeichert und entspannte sich. Endlich konnte die Woche hinter mir lassen, die Gedanken an die Praxis abschalten. Nach einem ausgiebigen Bad legte ich in mein Bett und schlief ich auch sofort ein. Die ganze Woche konnte ich nicht richtig abschalten und durchschlafen. Obwohl es hier tagsüber sehr ruhig ist die Mädels und Nils sich bei ihren Omi's aufhalten und ich sie in guten Händen fühle, schlief ich unruhig, wachte ich jast jede Stunde auf, sah immer wieder auf die Uhr. Nachmittags kümmerte ich mich um die Dienstpläne, Materialbestellungen, machte die Unterlagen für die Buchhaltung fertig, damit die Belegschaft ihren Gehalt pünklichst auf dem Konto hat.

Heute Morgen schlief ich in der Badewanne ein. Erst als ich fror, da das Wasser kalt wurde und ich im Schlaf mich zudecken wollte und über meine nassen Hände erschrak, hüpfte ich aus der Badewanne. Ich war schneller im Nest als ich logisch denken konnte und schlief sofort ein. Also war ich müder als ich mich fühlte.

Ich träumte von einem roten Fahrrad. Maman's Fahrrad. Sie hatte sich den Weidenkorb extra anfertigen lassen. Der Rand war wesentlich höher als bei den handelsüblichen Körben. Im Traum sah ich jemanden damit fahren. Ich erkannte nur minimale Körperumrisse. Aber das Fahrrad sah ich sehr deutlich. Rubinfarben leuchtete das Fahrrad im Morgennebel. Wieso dieser Nebel, dachte ich. Wieso rubinfarben? Das Fahrrad ist eher kirschrot mit silberfarbenen Schutzbleche. Ich rannte im Traum hinterher. Wer fährt da, fragte ich mich immer wieder, während ich rannte. Ich hüpfte sogar über umgefallene Bäume. Der Nebel verschluckte das Fahrrad. Wieso renne ich barfuß, fragte ich mich und wollte nachsehen wie meine Fußsohlen aussehen. Dann wachte ich auf.  Ich sah um mich herum. Ich bin in meinem Bett. Ich drehte mich um und wollte zurück in den Traum um ihn weiter zu träumen.

Wieso schlich sich Maman's rotes Fahrrad in meinen Traum? 

Vielleicht weil Tante über Traubenlese sprach und René und Lars und ich heute in den Weingarten fahren um Melonen und noch anderes zu  ernten. Jahrelang hat niemand dieses Fahrrad beachtet, weil niemand seit.....die Hütte richtig genutzt, belebt und darin so richtig gelebt hat.

Als Kind habe diese Hütte geliebt. Ich hätte am liebsten darin gewohnt. Ich brauchte nie viel um mich herum, außer die Natur und Menschen die ich liebe. So ist es bis heute.

Mein Handy vibrierte als mich eine neue Nachricht erreichte. 

"Bin gleich bei dir! Habe ich dich geweckt? Bis gleich Wirbelwind. Freu mich auf dich." 

Ich sah auf die Uhr. Wir haben 15:31 Uhr. Lars hatte Wochenenddienst in der Notaufnahme. 

Und ich bin immer noch müdeeeee. Was für eine harte Woche.....Aber ich muss mich gartenferig machen und auf die Schnelle einiges vorbereiten. Es wird knapp, dachte ich und hüpfte aus dem Nest. 

Und die Mädels kamen angerannt. Lars sah sehr erschöpft aus. Aber wegen Zoé wollte er mit, damit er auf sie aufpasst. Ohne die Mädels bleibt Zoé nirgendwo. 

Mich hat die Hütte am Rand vom Weingarten nie so richtig interessiert. Opa hatte sie noch gebaut. Sie besteht aus einem Zimmer und einer Veranda. Und hinter der Hütte ist ein kleines Gerätehäusschen. 

Über zwei Jahre lang wollte sich Oma nicht entscheiden was mit dem Weingarten geschehen soll. "Soll er doch verwildern. Lasst ihn verwildern." Sie benahm sich wie ein stures Kleinkind. Ihr Herz und ihre Gedanken waren voller Trauer  und suchten sich einen Schuldigen für Maman's Tod. Mein Stiefvater hatte die Aufgabe auf sie gut zu achten. Dann ging Fabian auch noch und ich war daran schuld weil ich nicht auf ihn aufgepasst habe. Oma war nicht mehr sie selbst. Als Maman ging, verfiel sie in eine Schockdemenz. Irgendwann erstellte sie im Wohnzimmer ein regelrechtes Altar mit Bilder von ihr und Kerzen und mit immer frischen Saisonblumen. Als Fabian ging, verfiel sie in eine tiefe Depression und gleichzeitig in eine Demenz. Sie kochte nicht mehr, die Vorräte im Kühlschrank überreichten ihr Haltbarkeitsdatum. "Ich will nichts. Ich habe keinen Hunger."  Kurze Zeit danach verwechselte sie mich mit Maman und behandelte mich wie ein kleines Mädchen. Sie schrie mich sogar an, wenn ich nicht das tat, was sie sagte. Sie gab mir Haarpflegetipps und jede Menge Tipps wie ich meine Haut zu pflegen habe. Die meisten kannte ich schon von Maman. Einen Schuss Apfelessig auf ein Liter Wasser und damit sollte ich meine Haare spülen. Tatsächlich wurden meine Haare dadurch weicher und glänzender und die Locken sprangen regelrecht auf. Ein Sud mit Wasser und Walnussblättern für Frische.....Natron für die Nägel und ein Fußbad mit Wasser Natron und Apfelessig für Fußpflege. Oma pflegte sich bis zu ihren letzten Tagen. Ihre ganze Logik verwendetete sie dafür zu sorgen dass sie "sauber" ist wie sie zu sagen pflegte.

Als das Emotionale noch sehr mit Logik durchwachsen war, gab sie uns die Schuld für alles. Jeder von uns und alles um sie herum bekamen eine Teilschuld daran. Ich bekam einen großen Teil davon ab. Als sie anfing nachts umherzurennen, die Schränke auszuräumen, um irgendetwas zu suchen, wussten wir, dass sie nicht mehr allein bleiben darf. Dann ging ihre älteste Tochter, meine Patentante. Sie bekam es kognitiv nicht mehr mit. Eines Morgens weigerte sie sich aufzustehen, sich für den Tag zurecht zu machen, ihre graumelierten langen immer noch lockigen Haare zu einem Zopf flechten zu lassen. Opa liebte ihre Haare. Meine Tante schnitt den Zopf ab, verpasste ihr einen undefinierbaren Haarschnitt und gab ihr Medikamente die ihr ihre Hausärztin verschrieb. Oma schlief immer länger, verschlief ihre ganze restliche Zeit.

Wenn ich sie besuchte, blickte sie mich mit verschlafenen Augen an und bat mich für sie zu singen. Dann sang sie Kirchenlieder die ich noch nie gehört habe. Meine Tante kochte ihr Suppe. Hühnersuppe an der Oma sich immer wieder verschluckte und alles heraushustete. 

"Komm hilf mir, ich kabe keine Kraft mehr." rief Tante mich an. Doch ich bekam so schnell keinen Urlaub. Es vergingen vier Tage bis ich endlich fahren konnte. Lars begleitete mich und wir verbrachten jede Minute an Oma's Seite. Sie aß artig ihre Suppe, aß genüsslich ihren mit Suppe verdünnten Kartoffel-Karotten-Hänchen - Brei und verschluckte sich nicht. "Stell das für Opa warm" sagte sie und schob das Schüsselchen zur Seite. "Aber ja!" beruhigte ich sie, weil sie Angst hatte, dass Opa nichts davon abbekam. Opa war schon lange nicht mehr da. Das schien sie vergessen zu haben.

Sie lächelte wenn ich sie gutenacht küsste und eines Morgens waren ihre Hände, ihre Wangen und ihr ganzer Körper kalt. Sie lag da wie ein altes friedlich schlafendendes Baby.

Ce jour où j'ai oublié qu'il y n'avait pas une pellicule dans l'appareil... L'oubli est une chose étrange et difficile, une angoisse de l'âme, un film qui as pris la lumière et puis s'est effacé..

Um den Weingarten und die Felder nicht zu verlieren bezahlte ich die Jahrespacht und laut neuem Pachtvertrag  gehörte es offiziell mir. Ich habe nur eine vage Ahnung von Weinreben und Wein. Mein Stiefvater blieb stur. Er erinnerte sich dass Maman den Weingarten liebte und sie Melonen und Kürbisse und Beeren zwischen die Reben setzte. Aber er wollte den Weingarten aus Prinzip nicht.

Dieses Jahr überwies mir René die Pacht. Wir haben alles zu einem gemeinsamen Projekt gemacht. Er hat Hausputz gemacht und ein paar ausrangierte Möbelstücke ins Zimmer gestellt. Einen Grill gekauft und den Pumpbrunnen gestrichen. 

In einer Ecke des Zimmers stand noch das Fahrrad von Maman. Sie konnte  schon ein Jahr vor ihrem Tod diese lange Strecke nicht mehr Fahrrad fahren ohne drei viel Pausen einzulegen.

René hat das Fahrrad poliert und es sieht fast aus wie neu. Und ich kann es nicht einmal berühren. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich fühle ihre Hand auf meiner, wenn ich es berühre. Das fühlte ich lange Zeit bevor wir die Praxis umbauten auch.

Normalerweise ziehen Fahrräder Feuchtigkeit aus und bekommen Flecken. Ihres blieb so wie sie es stehen gelassen hat.

Pá erzählte uns, dass sie ihn anrief sie abzuholen, denn sie hätte jede Menge Ernte die heimgefahren werden müsste. Als er eintraf saß sie am Verandatisch und fror. Seit 2012 steht das Fahrrad also da und es sieht aus als hätte sie es erst ausgepackt. 

Tante hat sich einen E-Roller von Xiaomi gekauft. Eine 73 Jahre alte Frau und ein E-Roller zieht alle Aufmerkramkeit auf sich. Und ihr Fahrstil nicht minder. Zum Glück nur auf dem Feldweg. Noch....

Man muss mit der Zeit gehen......Nichts bleibt immer gleich. Das Leben hat auch seine Teilchenphysik. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Herz sie nicht anerkennen will und ich nicht mit der Zeit gehe, sondern hänge irgendwie fest. Pá, so habe ich das Gefühl, löst sich immer mehr von der Familie. Er fährt oft in die Stadt, kommt am späten Nachmittag nach Hause, macht seine Hausarbeit und zieht sich zurück. Er war heute auch nicht bei der Ernte dabei. 

"Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er hier alles aufgiebt und in die Stadt zieht." spekulierte Tante. Pá sprach mit uns nie über sein Leben ohne Maman. Sein Gefühlsleben war für niemandes Ohren bestimmt. "Ob er eine Freundin hat?" spekulierte Tante weiter. "Der Kerl war schon immer etwas eigenartig. Ich mache drei Kreuze wenn der endlich hier weg ist."

"Nur weil nicht jeder mit dir über sich redetet?" regte René sich auf.

"Das ist auch so einer!" keifte Tante und zeigte auf René. René redet nicht mit jedem über alles. "Hast jetzt endlich eine neue Freundin? " René winkte lächelnd ab.

Sogar sein Geflügel hat er uns überlassen. "Schlachtet es oder verkauft es. Ich muss mein Leben leben, bevor es zu Ende ist."  Manchmal übernachtet er auch in der Stadt. Wir stellen keine Fragen. Er würde sie eh nicht beantworten. Wir verstehen ihn nicht und vermissen ihn sehr. Irgendwann muss man aber loslassen. Und er brauchte vielleicht jemanden, die ihm gezeigt hat wie man loslassen kann. Es ist nie das Ende der Welt, nur das Ende eines Lebens. Er sagt es uns noch nicht, da er denkt wir würden es ihm für übel nehmen. Ich nehme ihm es nicht übel, ich wünsche ihm dass es sein Glück noch einmal findet.

Und Pá ist noch sehr rüstig und auch für sein Alter noch sehr gepflegt und attraktiv. Vielleicht ist ihm eine neue Frau begegnet und er hat sich verliebt. Oder aber er liebt sie sogar. Liebe ist immer anders und oftmals wird die neue Liebe als noch einzigartiger, noch intensiver und noch tiefer empfunden.

Loslassen ist kein Verlust. Das Leben ist nicht da, um sich selbst darin aufzugeben. Ein Herz-E-Roller für den Herzfortschritt ziehe ich immer in Betracht. Einen anderen auch, aber wenn ich bedenke, dass er nicht unbedingt nützlich ist.  Fortschritt ja, aber nur etwas was mich seelisch und gedanklich fördert und fordert und herausfordert.

.....Es gibt immer noch Traurigkeitsaugenblicke die mich bis in den Schlaf begleiten. Sie werden immer seltener aber der eine oder andere Impuls rufen sie unberwusst hervor. 







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