Er

Juli 2015

Ich lag die ganze Nacht schlaflos in meinem Bett. Mein erster Arbeitstag als Chirurgin. Ich war für den Frühdienst eingeteilt und er war mein Schichtdienstleiter. Anders als ich es kannte gab es hier keine festen Teams. Das machte mir etwas Angst, denn ein eingespieltes Team weiß, dass man sich aufeinander verlassen kann wenn es schwierig wird. Auf alles Neue, alles Unvorhersehbare, alles Unbekannte gehe ich mit einem zurückhaltenden, abwartenden und erwartendem Gefühl an.

Einen Tag zuvor meldete ich mich noch einmal telefonisch zum Dienstantritt an und man stellte mich sofort zum Schichtdienstleiter durch. Mein Handy rauschte und knackte und ich konnte ihn nicht verstehen. Ich entschuldigte mich, legte auf und rief über mein Festnetztelefon an. Ich entschuldigte mich noch einmal für die schlechte Verbindung. 

Er lachte in mein Ohr. Es war mir so peinlich, weil ich sein Lachen nicht einschätzen konnte. Lachte er aus Höflichkeit, oder lachte er mich aus, da ich mich so dusselig anstellte. Er las mir meinen Dienstplan für die ganze Woche vor und sagte mir, dass ich zur ersten OP eingeteilt bin, dass ich ihm assistieren werde und dass er sich auf mich freut. Nachdem wir und gegenseitig einen schönen Tag wünschten, fingen meine Gedanken an wie ein Karussel zu kreisen, mein Herz raste und jeder Herzschlag fühlte sich an als würde er meinen Brustkorb sprengen. "Ich brauche ein neues Handy  mit allem Schnick-Schnack und von einem Anbieter der keine Funklöcher fröhnt." dachte ich. 

Ich konnte mit niemandem über meine Gefühlsgewitterwolken reden. Seit ich wieder zurück ins Rheinland in mein Vaterhaus gezogen war, da ich in der Nähe meine neue Arbeitsstelle bekam, meldete sich meine Freundin Denise nur noch sporadisch bei mir. Außer "viel Glück, du rockst es schon" schrieb sie nichts. Ihr Partner schien sie zu kontrollieren. Sie war immer noch wütend auf mich, wieso ich weggezogen war und mir nicht in einem Krankenhaus in ihrer Nähe eine Stelle suchte. Ich wollte meinem Ex nicht mehr begegnen und hoffte er würde schneller der Scheidung einwilligen. Sie hatte ihre eigenen  noch heftigere Beziehungsprobleme als ich und hatte ihren Kopf und Herz nicht mehr frei für mich.

Als ich dann endlich doch einschlief und knapp zehn Minuten bevor der Handywecker klingelte unter die Dusche rannte.

Nur ganze 20 Minuten später stand ich vor ihm. Er sah mich lächelnd an und hielt meine Hand in seiner einen gefühlten Endlosaugenblick länger in seiner. Vor mir stand ein Mann der knapp geschätzte dreißig cm größer ich als ich selbst. Schlacksig, humorvoll und von ruhiger Natur.

"Das Atmen nicht vergessen, liebe Kollegin." riss er mich aus dem Gedanken. "Dienstbesprechung in zehn Minuten. Danach OP-Vorbereitung. Sie assistieren mir. Bis dann." dann ließ er mich stehen und rannte vor. 

Nach einen kurzen Vorstellungsrunde und nach der Schichtübergabe verabschiedeten sich die Kollegen vom Nachtdienst und er, das OP-Team und ich bereiteten uns für die Op vor. Ich sah auf die elektronische OP-Tafel und staunte. ich war als war als leitende Chirurgin eingetragen. ich sah ihn an und bevor ich sprechen konnte, sagte er: " ich will sehen was du drauf hast. Hier duzen wir uns. Was dagegen?

"Nein!" sagte ich leise und rannte hinter ihm her. 

Ich fühlte mich fast allein auf dem "OP-Feld." 

"Etwas lauter bitte!" erinnerte er mich."Du hast doch gefrühstückt, nehme ich an."

Ich führte das Team durch die OP  und war erleichtert, dass es keine Komplikationen gab.

"Gut gemacht!" Er legte seine schmale Hand auf meine Schulter und sah mich an. "Kaffee?" fragte er.

"Danke, nein. Ich trinke keinen Kaffee." 

"Dann leistest du mir Gesellschaft?" er rannte vor und hielt mir die Tür auf. Ich kannte solche Gesten von meiner Ausbildungsklinik nicht. Für Höflichkeiten hatte man nichts übrig. Ich fragte ob  hier es auch so stressig wäre. 

"Wir sind kein Fließband. Ich weiß aber was du meinst. Stress haben wir auch genug, da wir wie du siehst chronisch unterbesetzt sind."

Ich nickte und er sagte während wir auf dem Weg zur nächsten OP waren, die er leitete: "Wir gehen nach dem Dienst manchmal etwas "Chillen"  Um die Ecke ist ein Pub. Wenn du mitkommen möchtest."

"Oh, Pub! Ich trinke aber kein Alkohol."

"Trocken?"

"Nein!" ich lachte. "Wieso denkt man das immer, wenn jemand keinen Alkohol mag?" fragte ich etwas gereizt.

"Weil es selten jemanden gibt der gar keinen trinkt." stellte er fest.

"Trinkst du welchen?"

"Manchmal einen Wein, oder ein Bier."

"Pferdepisse." verplapperte ich mich.

"Bitte waaas?" Er lachte laut und ich musste einfach mitlachen. Er riss mich mit in den Lachstrudel.

"Wird dir gefallen. Samstags und Sonntags gibt es  meisten Irish Dance! Ich bin ein guter Lehrer, falls du einen brauchst. Wir waren heute ein gutes Team. Willkommen im Rheinland!"

"Merci, aber ich lebe hier mit meinem Bruder ihm Haus unseres Vaters."

"Dann willkommen hier bei uns.Was denkst du gerade?"

"Dass alle OP gut verlaufen sind."

Ich ging zu den Spinden, zog mich um und hörte:
"Kotzbrocken, heute hat er sich von seiner allerbesten Seite gezeigt. Sie scheint etwas naiv zu sein. Der wird ihr auch schnell die Hölle heiß machen, wenn er schlechte Laune hat, weil seine Kleine ihn wieder die ganze Zeit in Anspruch nimmt." hörte ich eine Kollegin über ihn herziehen.
Ich war viel zu müde darüber objektiv nachzudenken, wer mit "seine Kleine" gemeint sei und darüber dass man mich unterschätzt und dass ein Mensch der so ruhig, so gelassen, so humorvoll, sehr schlecht gelaunt sein könnte. Es war mir aufgefallen dass sehr viel getrascht wurde. Obwohl man sich untereinander kaum kannte, wurde sobald einer den Raum verlassen hat über ihn hergezogen. 

Aber das Wetter ist nicht immer nur heiter und dunkle Wolken bedeuten nicht immer Regen. Der erste Tag endete mit vielen Gedanken und mit einem unguten Gefühl.

Die ersten Monate vergingen. Die Arbeitstage waren mit viel Stress durchwachsen. Ich besuchte einige Male das Pub. Er stellte mich seinem Bruder und dessen Frau, seinen Freunden und ein paar Kolleginnen und Kollegen von den Partnerkliniken vor. 

Wir waren ein gutes Team im OP, im beruflichen Alltag konnten wir uns blind aufeinander verlassen.
Eines Tages brachte er seine schwer kranke Tochter vorbei und bat mich ob ich sie für ein paar Stunden übernehmen würde, damit er ein paar Termine wahrnehmen könnte.
Ich war gerührt und ängstlich zugleich für das Vertrauen das er mir entgegen brachte und für die schwere Aufgabe die er mir zutraute.
Als er sie ein paar Stunden später abholte und die Kleine laut protestierte, dass sie hier bleiben möchte, hatte er Tränen in den Augen.
"Kein Thema für mich, ab und zu kann ich auf sie aufpassen, wenn du Termine hast." murmelte ich.
Tag für Tag redete er immer mehr über sich. 
"Wie führt man denn eine Fernehe? fragte er, als ich mit ihm über mich redete.
"Ich führe sie nicht mehr. Anfangs dachte ich mit Liebe schafft man alles. Ich dachte er würde nachkommen, aber er suchte sich eine Kollegin aus mit er zwischendurch seine Freizeit verbringen wollte. Und als sie ihm den Laufpass gab, wollte er zu mir zurück. Ich habe mich nach dem Examen hier für eine Stelle beworben und am gleichen Tag als ich eine Stelle bekam, habe ich ihm die Scheidungsunterlagen zugesendet."
"Liebst du ihn noch?" fragte er leise.
"Liebe ist  für mich endlich. Es ist nur das was man daraus macht.  Ich weiß es nicht ob ich ihn genug geliebt habe, wie er geliebt werden wollte. Aber als er sich für eine Kollegin entschied, war meine Liebe zu ihm weg.  Wir haben überstürzt geheiratet. Er war liebevoll zu mir, etwas chaotisch, verspielt, wollte immer der Kern, der Nabel, der Mittelpunkt sein. Ich regte mich über seine Unordnung, Unselbstständigkeit auf. Er nahm mir viel Substanz. Ihm war es langweilig neben mir zu sitzen wenn ich für mein Facharzt lernte. Er wollte mit Freunden um die Häuser ziehen und mir war das viel zu laut, viel zu albern. 

Vielleicht  bin ich innerlich gar nicht bereit für eine Beziehung. Ich bin hin und her gerissen. Meine Familie möchte, dass ich nach Hause komme, mein Bruder braucht hier Hilfe." Ich erzählte ihm über die Krankkeit meines Bruders und über meine Ängste und dass er sich nicht von mir helfen lässt. Dass ich nicht mehr bereit bin ihm zu helfen. 
Er nickte. "Man lässt die Tür offen und das Licht brennen. Man bricht nicht so schnell. Das ist Liebe. Das ist Familie. "
"Ich schließe die Tür und schließe sie sogar ab, wenn mich nichts mehr tun kann."
"Solltest du aber nicht. Er ist dein Bruder. Egal wie viel ihr euch streitet. Man streitet sich nur mit denen die einem nahe stehen."

Als er nach dem Urlaub nicht mehr zurückkam, weil er sich um seine Tochter kümmerte deren Zustand sich schnell verschlechterte, trafen wir uns nur um uns gegenseitig auszuheulen. Wir waren fast zwei Jahre miteinander befreundet.

Mein beruflicher Alltag wurde noch stressiger. Unter dem neuen Schichtleiter, der ein Choleriker war und die Kollegen untereinander ausspielte, litt ich sehr. 
"Soll ich mit ihm reden? Ich kenne ihn gut." fragte er
"Nein, bitte nicht. Er wird mich noch mehr scheuchen." bat ich.
Er sprach trotzdem mit dem Schichtleiter und ich konnte aufatmen. Ich bekam immer mehr Verantwortung aufgetragen und durfte ihn auch im Urlaub vertreten.
Als eine neue Stelle in der neuen Klinik frei wurde, wurde sie mir zugeteilt.
Als er mir schrieb, dass seine Tochter verstorben sei, wollte er dass wir uns oft sehen.
Wir verbrachten viel Zeit miteinander. Ich erzählte ihm nicht, dass ich nur aus einer Wut heraus, weil mein Ex immer noch die Scheidung ablehnte, im Begriff war mein Leben als Fußnote einer Dummheit zu machen.
"Ich komme am 1. des Monats zurück. Ich habe bei dir eine Stelle bekommen. In einer anderen Schicht. Ich nehme dir den Posten nicht weg, keine Angst. Ich kann gut unter dir arbeiten."
Wir waren Freunde und ich hatte keine Angst. 
Als mein Zwillingsbruder starb, wurde ich zwei Wochen krank geschrieben. Danch nahm ich meinen ganzen Jahresurlaub um Dinge zu regeln. Er half mir bei den Formalitäten und wir gingen ab und zu aus. 
Ich mahm meinen Dienst wieder auf und versuchte mich Tag für Tag durch die Trauer zu kämpfen. 
Als wir uns nach dem Dienst im Café verabredeten fragte er mich. "Wie lange willst du es vermeiden über uns zu reden?"
"Worüber?"fragte ich erstaunt.
"Über uns," sagte er ernst.
"Was ist das nun mit uns. Gibt es denn ein Uns das mehr als nur auf Freundschaft basiert?" fragte ich erstaunt. Ich war verwirrt. Wir hatten nie über ein "uns"gesprochen. Wir hatten uns nicht einmal geküsst. Wir umarmten uns ab und zu. Seine Arme fühlten sich gut an und ich fühlte mich darin geborgen. 
"Ich kann nichts Neues beginnen." stammelte ich.
"Wir haben doch schon längst was Neues!" erklärte er.

"Ich bin noch ganz verwirrt. Ich weiß nicht einmal was nun mit seinen Kindern passiert. Meine Exschwägerin hat einen neuen Lebenspartner und erwartet in 5 Monaten ein Kind von ihm. Die Mädels klammern sich beide an mich, wie du siehst. Ich habe keine Ahnung wie mein Leben weiter geht."

"Schon klar."

"Schon klar? Eigentlich ist es keine Basis für eine Beziehung. Die Mädels wollen hier bleiben. Und nun stelle ich ihnen einen neuen Menschen in meinem Leben vor."

"Ich kenne die Mädels schon und sie scheinen mich zu mögen. Sie sprachen die ganze Zeit mit mir. Du bist sauer auf mich?!

"Nein! Nein! Es soll nur nicht sein. Ich muss los zum Dienst. Wir sehen uns. ich rufe dich an." "Versprochen!?"Ich lasse nicht locker bis du "Ja" sagst.

"Zu was?"

"Zu einem "Uns"."

"Aber ja."

"Was aber ja?"

"Ich sage Ja zu uns. Ich ruf dich an, sobald ich kann."





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