Die erste Tochter

 Oma war für ein paar Jahre allein mit ihrer ersten Tochter.  - Alleinerziehend - würde man es heute nennen. 

Nur kurz weiche ich ab weil ein Blitzgedanke unbedingt niedergeschrieben werden wollte. "Setze das Wort nicht in Anführungszeichen, du wertest es ab." sagte mein Vater immer wenn ich mit den Fingen die Anführungszeichen ahmte.

Ich werte es nicht ab. Oma hatte zehn Jahre lang allein für ihr kleines Mädchen und sich allein sorgen müssen, dass sie etwas zu essen, zu anziehen und ein Paar Schuhe hatten. 

Erst dann schrieb ihr Opa, dass er sich hier etwas Feld erwerben konnte und gerade ein kleines Haus umbaut und er sich hier sehr wohl fühle. Sie möge doch hierher ziehen. Oma erzählte das immer wieder, so voller Emotionen, so voller Liebe, dass Opa ihr ganz gerührt in die Augen sah. Das ist Liebe, sagt man. Es waren andere Zeiten. Man blieb zusammen und versuchte das Beste daraus zu machen.

Mir würde das nicht gelingen. Das weiss ich. Liebe ist für mich endlich. Man entfremdet sich doch nach so einer langen Zeit. Ich würde da nicht anknüpfen wollen. Ich hätte da Fragen über Fragen.

Trotz aller Fürsorge und Liebe, die verlorenen Jahre konnte Opa mit seiner ersten Tochter nicht mehr aufholen. 10 Jahre lang hat man ihrcerzählt, er wäre gefallen. Oma und Opa bekamen noch zwei Töchter.  In den 70ern rannte die erste Tochter über Nacht von zu Hause weg, verschlug sich in der Bretagne und verliebte sich irgendwann in meinen Onkel. Erst mein Onkel konnte sie überreden ihre Eltern und Schwestern zu besuchen. Maman und sie hatten eine besondere starke Bindung zueinander.

Mit etwas Geld von Oma und Opa und mit viel Arbeit, haben sie sich eine kleine Pension gekauft, bauten sie um sicherten damit ihren Lebensunterhalt.

Als Tante Hanna(Johanna) gesundheitlich sehr angeschlagen, schaffte es Onkel nicht mehr alles allein zu bewältigen. Sie verkaufte die Pension und behielten nur das anliegende Haus. Als Tante Hanna ca 3 Jahre nach Maman starb, hinterließ sie meinen Onkel traurig zurück. Er kann es sich bis heute nicht vorstellen hier vom Meer wegzuziehen. Das Haus mit den kirschroten Fensterläden, ein Chaumière, wie man hier die Sandsteinhäuser mit den meist bunten Fensterläden nennt,  ist alt, das ganze Gebälk knackst bei jedem Schritt. Aber es hat seinen alten Charme. Nur wirkt dieser  Charm sehr morbide. Nichts hat sich im Laufe der Zeit verändert. Seit der Beerdigung waren wir nicht mehr hier. Sein Sohn, der 9 Jahre älter ist als ich, lebt mit seiner Freundin nahe Paris und scheint viel zu beschäftigt zu sein, um seinen Vater regelmäßig zu besuchen.

Der Eingang zum Haus ist mit verblühten Hortensien und Seegras zugewuchert. Hanna`s Hortensien. Sie würde Onkel zu Boden schreien, wegen der Wildnis. Verwittert und verwildert.

"Heb die Füße an, sonst fällst du wieder über die Türschwelle!" lachte er. Die Bretonen habe ihre eigene Sprache die mit der Französischen gar nicht artverwandt ist. Er bemüht sich für uns ein feines Hochfranzösisch zu sprechen und verfällt ab und zu in die vielen ch seiner Sprache.

Ich lachte mit. Jedes Mal stolperte ich über die taubenblau lackierte Schwelle. Heute wäre ich bestimmt auch über die Schwelle geflogen.

Wie ich diese Lampe im Flur liebe. Eine Art Sturmlampe, eine Imitation mit warm gedämpften elektrischem Licht. 

Onkel sieht alt aus. Seine Haare sind fast weiß und seine Augen zeigten deutlich ihren Mangel an Schlaf. Er drückte mich so fest an sich, als wären wir alte Freunde.

Ein erfrischender Duft, ein Amalgam aus Seegras, reifen Feigen und Oleander strömte durch das offene Fenster.

Im Haus ist es so sauber, dass man vom Boden essen könnte. 

Wir haben eine Woche mit Onkel Jean, seinen melancholischen und lebendigen Humor zugleich genießen dürfen. und die Küche.....ich habe noch nie Fisch gegessen, geschweige denn Meeresfrüchte, aber er hat mich gelehrt auf was ich achten muss, wenn ich Fisch kaufe und zubereite.

Er hat uns seinen Freunden und Nachbarn vorgestellt und sie waren alle so herzlich zu uns.

Am Freitag Abend saßen wir beim Soirée mit Onkel und er trank nur Schnaps. Ich kannte diese Seite an ihm nicht. Da sagte er zu Fabienne: "Such dir den Mann fürs Leben gut aus. Es gibt drei Kategorien Männer. Die einen wollen dich besitzen, sind egoistisch und rechthaberisch. die zweiten sind lieb, die kannst du heiraten. Die sehen nur dich und sonst niemanden. Nicht einmal sich selbst. Und dann auf einmal wird es ihnen langweilig mit dir, weil sie nur dich angesehen haben. dann hören sie auf zu leben, sie vegetieren neben dir her. Und die dritten sind die für die du lebst, mit denen alles Sinn macht. Du liebst sie und sie lieben dich. Du stehst auf um sie zu lieben, du lebst um sie zu lieben und du bist deren Lebensinhalt und sie deinen. Für so einen lässt du alles liegen und stehen."

Er sah mich an und sagte: "Für deine Tante Hanna hätte ich alles hier liegen lassen und wäre mit ihr überall hingezogen, aber sie wollte hier am Meer bleiben." er schniefte. "Es ist so schade, dass wir so weit auseinander leben, dass wir uns so selten besuchen kommen."

"Aber ja! Du bist Rentner Onkel Jean, du kannst uns immer besuchen. Wir holen dich auch gerne ab, wenn du nicht mehr weit fahren kannst."

Am Samstag Morgen als wir uns verabschiedeten sagte er, was ich dachte, der Schnaps hätte es ihm vernebelt: "Zu Weihnachten, so Gott will, holt ihr mich ab, damit wir noch etwas von uns haben. Wie die Zeit vergeht......kommt gut und gesund heim"

Ich fragte mich oft, wieso Tante alles hinter sich ließ und von einem Tag auf den anderen weg zog ohne sich zu verabschieden? Waren Opa und Oma daran schuld, da sie sich mehr um Maman drehten, um das Nesthäkchen? Waren es die Freunde, die sie überredeteten?  Oder rannte sie von ihrem Zukünftigen weg? Man sprach nie darüber. Sie hatte einen Freund, hatte ihre eigene Wohnung, Oma und Opa bezahlten ihr Studium, sie konnte tun und lassen was sie wollte. Sie rannte mit ein paar Freunden weg. Meine andere Tante meinte, es war damals so, dass die Kinder "die Jungen" es sehr eilig hatten in die Großstadt zu ziehen, weil sie bessere Möglichkeiten hatten sich beruflich zu verwirklichen. Wenige blieben zurück zum das Landleben aufrecht zu halten. Heute ist es wieder andersrum. Viele kommen zurück, kaufen Feld und bauen wieder Häuser. Sie wollen das Landleben für die Kinder, sie gründen wieder das eine oder andere Unternehmen. Sie haben den Stress und das Stadtleben satt.

Sie liebte mich abgöttisch, da ich das einzige Mädchen unter allen Kindern bin. Sie nähte für mich Kleider und Bettwäsche, sie strickte für mich Mützen und Sweater und ich durfte jede Ferien bei ihr verbringen. 

Als ich wegzog, habe ich ihr das Herz gebrochen. Sie war so verletzt, dass ihr "einziges Mädchen" sie verlassen hatte. Sie war so wütend auf Fabian, dass sie sogar fähig war zu sagen. "trete mir nicht mehr unter die Augen." 

Als ich dann noch Hals über Kopf heiratete, obwohl ich in meinen Gefühlen, in meiner Liebe so unsicher war wie noch nie und blind alles übersehen hatte, meine Unreife, seine Unreife, seine Unselbstständigleit und meinen Zweifel, war ich für sie eine ganze Enttäuschung. Wir enfremdeten uns immer mehr voneinander. Ihre Söhne zogen dann auch noch weg.Es verschlug beide nach Paris zum Studium und sie blieben dann einfach dort. Mein Onkel schaffte es nicht alle zu ersetzen, ihr Vermissen zu stillen, ihre Wut abzuschalten.

Bevor wir abgereist sind waren wir noch auf dem Friedhof an Tante's Grab. Ich habe Angst vor Friedhöfen, aber der Friedhof sah gar nicht wie ein Friedhof aus. Er sah aus wie ein riesenroßes Laken aus weißen und grauen Kies. Die Wege, die Gräber waren mit diesem in der Sonne glitzernden Kies bedeckt. Die Gräber sahen aus wie frisch gemachte Federbetten. Wie Oma's dicke Federbetten in einem kalten Winter. Aus jedem Bett blühte ein Rosenstock heraus. Aus Tante's Kiesfederbettgrab blühte ein ein Rosenstock wunderschön samtigkirschrot. Sie liebte rote Samtrosen. Diese Metamorphose - .....ich verwarf den Gedanken sehr schnell, bevor jemand meine Angst sehen konnte. Als wurde ihre Endlichkeit nur zu Bett gebracht und träumte nur in Rosenform all ihre Träume samtrot - zartwild.


Wir ließen einen traurigen Onkel, einen gebrochenen Mann in seiner Hilflosigkeit zurück. Sein Sohn wird ihm bestimmt einmal im Monat anrufen und er wird ihm fröhlich berichten wie gut es ihm noch ginge.  Ob er an Weihnachten uns besuchen will, das wird sich weisen. Es sei denn seine Freunde schaffen es ihn zu überreden. Sie mögen uns. Sie sind kein "Volk unter sich" sie sind herzlich.

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