Die Feinheiten des Ichs - verloren in der Zeit

Meine Maman übernahm die Praxis von einem Arzt für Allgemeinmedizin. Für ein 8jähriges Kind ist ein 79 jähriger Mann ja schon uralt.

Er sprach neben Französisch, ein lupenreines Hochdeutsch und sogar ein schönes Englisch. Was mir als erstes auffiel, war seine kleine wunderschöne und gleichmässige calligraphische Handschrift. Er schrieb die Substantive und Namen mit großen Anfangsminuskeln anstatt a mit a.

Er hieß Kurt und seine Frau hieß Alice. Sie zog die wirtschfaftlichen Fäden im Hintergrund und hielt ihm den Rücken frei.

Während der ganzen Übergabephase nahm mich Maman mit in die Praxis. 

Madame Alice umsorgte mich mit Süssigkeiten und Tee, während Maman mit Monsieur Kurt die Patientenakten durchsahen. An anderen Tagen saßen Madame Alice mit Maman zusammen und wühlten sich durch die Praxisunterlagen.

Und immer wieder kam ein Lob von Alice über mich. Ich freute mich wie ein Floh im Stroh und war artig im Superlativsten

Diese beiden Menschen hatten so viel Feingefühl in ihren Gesten, in ihrem ganzen Wesen und in ihrem Ich.

Es war damals Spätherbst und Madame Alice trug einen Einteiler und einen Hut aus dem gleichen Stoff wie der Einteiler. Ich bewunderte ihren Kleidungstil. Sie trug immer Rock und Jacket und Hut. 

Sie schenkten mir Duden und Sorbonne - Grammatique. medizinische Lexika und jede Menge kleine Gefäße. "Kannst das für deine Puppen haben."

Meine Puppen waren Katzen und unsere Ziegen- und Schafslämmer und unsere Hunde. Die waren lebendig und interessanter als Puppen.

Sie hatten keine eigenen Kinder und sie waren auch nicht mit Kindern gewohnt. Sie behandelten mich wie eine kleine Erwachsene. 

"Du hast doch einen Seelentraum? Aber ja, hast du einen." 

Ich sah ihn an und schämte mich dafür, dass ich ihm sprachlich nicht folgen konnte. "Was ist ein Seelentraum, bitte?

"Seelentraum ist ein Wunsch" sagte er. "Heute sagt man ja Wunsch." belehrte er mich. "Willst du Ärztin werden wie deine Maman?" fragte er.

"Tierärztin. Alle Menschen sind gleich. Die Tiere aber nicht. Da muss man mehr lernen, aber macht nichts."

"Jetzt verstehe ich, wieso du kein Lammgulasch gegessen hast. Du hast es beweint, dein Lamm."

Es dauerte fast drei Wochen bis sie sich von mir und Maman verabschiedeten und uns den Praxisschlüssel übergaben.

Maman lud sie ein paar Male zu uns auf den Hof zum Abendessen ein. Zwei Jahre später starb Madame Alice und Maman kaufte sich einen Hut, zog anstatt einen Hosenanzug ein schwarzes Kleid an, anstatt, damit sie bei der  Beerdigung nicht unweiblich auffiel.

Ein paar Monate später ging er dann auch. Maman ging zur Beerdigung und ich durfte wieder nicht mit.

"Beerdigungen sind nicht für Kinder." sagte sie.

Ich weinte um Kurt und Alice und ich wusste gar nicht ob ich deswegen weinte, weil sie nicht mehr lebten oder weil ich sie und ihr ganzes Ich vermisste.

Seelenwunsch - es kam so viel anders.

Ich wurde keine Tierärztin. Ich wurde Chirurgin, weil mich die Chirurgie mehr interessierte. Ich liebe die Tiere und die Felder, aber nur weil ich das Landleben liebe und mich nicht von Chemie ernähren will. Ich halte keine Ziegen oder Schafe, aber 4 Kühe, 5 Schweine und Hühner, Gänse, Enten und Truthähne und 3 Puten. Eher als Nahrungsquelle. Und wenn ich was weiß ich, Tag und Nacht arbeite, das gebe ich nicht auf.

Ich habe eine innige Verbindung zu meiner Familie. Einige Männer in meinem Leben wollten das nicht akzeptieren, dass sie nicht die erste und einzige Geige in meinem Leben spielen konnten. Und ich spielte nicht die einzige Geige in ihrem Leben. Ich bin teilbar durch......meine Liebe ist teilbar durch....

Für mich ist es selbstverständlich, für viele Menschen ist es das nicht. 

Dann steht man da mit einem leeren Herzen und fragt sich: kehrt man allesn den Rücken und folgt nur einem einzigen Menschen? Ich konnte das nicht. Man hat ja zuerst die Familie, dann den Partner.

Ich hatte von einem Tag auf den anderen zwei Nichten, denen ich Mutterersatz sein musste.

Liebe - so Hals über Kopf mich zu verlieben, konnte ich nicht mehr. Ich war nicht mehr so unbeschwert. 

Wenn man Verantwortung trägt, sollte man sie selbst tragen, man sollte sie niemandem aufhalsen. Etwas mitragen zu müssen, ist für ein anderer auf  Dauer eine Belastung. 

Und jemandem das ins Gesicht zu sagen "Ich möchte das nicht, weil ich denke dass du nicht dafür gewachsen bist." 

Ich erziehe meine Nichten nicht allein. Sie haben noch einen Onkel und sie haben auch einen Opa und vor Tante haben sie imensen Respekt. 

Und manchmal frage ich mich ob es überhaupt Seelenträume gibt? Ich kenne niemanden der seinem Seelentraum gefolgt ist. 

Es hat sich so ergeben ......irgendwelche Götter ziehen die Fäden und wir sind nur ihre Marionetten.

Nun ja, ich bin so wie es ist irgendwie glücklich. Im Hintergrund meiner anderen Gedanken, lauert ein einziger Gedanke: was ist, wenn mir etwas zustößt? Das ist meine Angst, das ist meine Urangst und es gibt niemanden der mir diesen Gedanken wegpusten kann.

Er ist wie ein Lied das man im Radio hört und nebenbei seine Hausarbeit macht. 








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