Die Schulklasse

Valérie - war zwei Jahre lang meine Schulkollegin im Lycée d’enseignement général
im ES(économique et sociale). Wir waren beide 16 Jahre alt und wir waren Schulfreundinnen. Unsere Freundschaft verließ den Schulhof nicht.
Sie war viel größer als ich und das größte Mädchen in der ganzen Klasse und hatte ganz lange blonde Haare und eine etwas rötliche Haut, etwas trockene Haut und ganz dunkelbraune fast schwarze Augen. 
Über mich befreundete sich mit meinem Zwillingsbruder an. Sie verliebte sich in ihn, aber da sie größer war als er, hielt er sie irgendwie auf Abstand. Sie aber hatte nur Augen für ihn. 
Morgens rannte sie immer zuerst auf ihn zu und begrüßte ihn mit freundschaftlichen bisous, als gäbe es niemanden sonst auf der Welt und ich zog ihn zu Hause immer damit auf und er wurde daraufhin immer wütend. Pubertät ist ein Albtraum zwischen Kindsein und Erwachsensein. In einem Moment spielen wir miteinander, hören Musik, machen die Fußgänger mit unseren Farräder sicher und im nächten Moment führen wir miteinander einen emotionalen und körperlichen Krieg. Dann ist unser Körper uns peinlich, unsere Emotionen überschlagen sich. Ich war eher schüchtern, sie war es nicht. Sie war irgendwie für jeden da. Sie war sogar Klassensprecherin und konnte sehr gut argumentieren. Entweder war sie mit nur wegen Fabian befreundet, oder sie mochte mich. Ich war irgendwie immer noch Kind. Alle Jungs waren in meinen damaligen Augen, irgendwie blöd wie meine Brüder. 

Kurz vor den Sommerferien erzählte sie mir, dass sie mit ihrer Mutter zum Flughaben nach Strassbourg fährt, das sie ihre Großtante aus Kanada abholen würden, die seit Jahren ausgewandert ist und ihre Großeltern besucht. Sie bekam dafür sogar einen Tag schulfrei.

Nach dem Abendbrot schaltete Oma immer den Fenseher an. Die Abendnachrichten ließ sie sich nicht entgehen. Die Welt hätte untergehen können und Oma würde noch immer vor der Glotze auf ihrem chaiselongue(Furzpolster,nannte es Opa immer, da Oma ihm nie Platz darauf machte) liegen und "Ruhe!" in die Runde rufen, damit sie ungestört die Nachrichten sehen konnte. Ab und zu ließ sie einen richtigen Furz ab, was Opa fast zur Weißglut brachte. 
Geräusche wie Schmatzen, Schlürfen, Furzen machten ihn wütend. "Wer seinen Körper nicht im Griff hat...ist eine Sau!" konterte er.

Die Nachrichtensprecherin brüllte aus der Flimmerkiste dass ein Citroën in einen Tanklaster gerast ist und zwei Menschen ums Leben kamen.

Damals gab es MP3 Player und ich war damit beschäftigt und sah nicht hin, obwohl Oma meinte dass Nachrichten wichtig wären, damit man weiß was in der Welt passiert.  Danach ging ich auf mein Zimmer und ballerte die Mohrhühner am PC ab, was Opa nicht gut fand, denn wer ballern will, sollte in den Krieg ziehen, war seine Meinung dazu. 

Der zitronengelbe Citroën blieb mir lange vor Augen. Der Klassenlehrer kam in die Klasse und legte ein leeren weißes DIN A4 Blatt auf ihren Platz. Die ganze Klasse wunderte sich, aber niemand sagte etwas. Die meisten erwarteten einen einen Mathetest. Aber der blieb aus. Trauertag. Der Lehrer war selbst Vater und was ihn ihm vorging, zeigte er der Klasse mit seinem Schweigen.

Dann stellte er sich vor die Klasse und erzählte uns von Valérie, dass sie einen tödlichen Unfall hatte. Ihre Mutter starb zwei Tage danach. 

"Wer beten möchte, kann es in Gedanken tun." sagte er und setzte sich an seinen Tisch und schwieg. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Niemand hustete, schniefte, niemand ließ den Stift fallen. Alle saßen da wie leblose Puppen.

Die ganze Schulklasse, Schüler aus anderen Klassen, Kinder aus der Nachbarschaft  waren bei der Beerdigung dabei. Ich saß bei der Trauerfeier mit Schülern aus unserer Klasse ganz hinten, wo für uns reserviert war und sah auf die drei Särge. Ihrer war weiß.

Anschließend fuhren wir mit dem Bus nach Hause.

"War es eine schöne Beerdigung? fragte Oma.

"Eine Beerdigung ist nie schön. Was soll daran schön sein? Es liegen da Tote die beweint werden." Ich ging die Treppe hoch zu meinem Kinderzimmer. Ich musste an Fabians Zimmer vorbei gehen und hörte ihn schluchzen. 

"Ist alles in Ordnung?" rief ich und klopfte an die Tür. "Kann ich rein kommen?"

Er murmelte ein "Hmm...ja". Er saß an seinem Schreibtisch und wollte seine Hausaufgaben machen und hörte 




aus Asterix und Obelix und wir weinten beide.
"Sie war in dich verliebt" schniefte ich.
"Sie war um einen ganzen Kopf größer als ich. Sie war süss." sagte er leise. "Oh geh jetzt raus.....verzieh dich hier" schrie er. "Raaaaauuuus!"
Ich huschte aus dem Zimmer und dachte lange nach. Sie hatte noch so viel Leben ......
Ich verstand....es gibt Dinge im Leben, mit denen wir noch umzugehen lernen müssen. Liebe mit ihren Facetten, Formen und Arten und Tod und Endlickeit....der Code aus Buchstaben und Ziffern auf dem Totenschein....der unklare Himmel.....und das fühlende Nichts wie ein Krater im Herzen.


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