Folk und Rock und Herzmusik und Vermissen

Meine Eltern hörten viel Musik. Meistens hörten sie Folk oder Rock. Mein Vater, hätte ihm der Rotwein nicht so gut gemundet, was auch zu seinen Aggressionen führte, wäre er ein sanfter musischer Mensch gewesen. Er sammelte Uhren, Modellautos und reparierte ganz alte Radios. Allein aus Nostalgie zu den Radios und Tonbändern. 

Maman hatte jede Menge Kasetten, CD, DVD. Alle schön alphatetisch sortiert. Mit Rock und Folk wuchs ich auf.

Die 80 er sollten die besten Musikjahre gewesen sein, schwärmte Mama. Ich wurde in den 80 ern geboren und erinnere mich vage an die 90 ern. Erst so mit 10 Jahren begeisterte ich mich auch Folk und Rock  und die ganzen Melange aus Rock und Folk. 

Maman erzählte mir, wie mein Vater die Kasette mit Meat Loaf -Songs in den Rekorder legte, volles Volumen aufdrehte und abwechselnd mit mir und meinem Bruder durch das Wohnzimmer tanzte.

Wir hatten im ersten Lebensjahr zwei mal Lungenentündung, bei ihm und bei mir wurde eine bicuspidale Herzklappe diagnostiziert. Wir aßen schlecht. Nach ein Schlückchen Milch lagen wir verschwitzt und apathisch da und wimmerten. Dann erbrachen wir alles was wir getrunken haben. Nachts brüllten wir, weil wir schlaflose "Scheißhaufen" waren, wie mein Vater uns nannte wenn wir das ganze Haus wach hielten.

"Ich kann diese Scheißhaufen nicht mehr schreien hören," schrie er und drehte die Musik auf.

Und plötzlich schliefen wir wie Engelchen. 

Von da an schliefen wir mit Hintergrundmusik. Mit zwei Jahren schliefen wir erst durch. Wir hörten keine Kinderlieder. Wir hörten Rock und Folk. Und erst ab dem zweiten Lebensjahr konnte er mit uns viel anfangen. Dann war er mit Herz und Logik Vater. Er begeisterte uns mit der Natur. Trotz dass er älter war, war er körperlich dermaßen fit und wir wanderten kilometerweit durch die Natur. Dann machten wir Rast und aßen belegte Brote und Obst. "Wir setzen uns bei Essen." sagte er immer. "Wie ieht es aus wenn wir fressend herumrennen." 

Mein Vater konnte gut tanzen. Er konnte richtig toll führen. Ich fragte ihn einmal: "wie tanzt man das?"

"Mit Händen und Füßen und mit dem ganzen Körper." sagte er und ich sah ihn unverständlich an und hörte seine Ironie und seinen Sarkasmus heraus. Und er hatte einen erniedrigenden Wortschatz, wenn er etwas nicht mochte. Und er mochte fast niemanden und nichts.

"Bewege dich zur Musik, zum Takt. Dreh dich einfach nach Gehör und Gefühl. Wer nach Tanzschritten tanzt, der hopst nur wie eine Ziege oder ein Ziegenbock herum."

Mein Vater fand die Nadel im Heuhaufen, wenn er es auf jemanden abgesehen hatte. Keine Geste, kein Körperteil, keine Art wurde von seinen Ketzereien verschont. Meistens dann wenn er mehr als zwei Gläser Rotwein intus hatte. Er vertrug kaum Alkohol und ab und zu wollte er halt beweisen dass er trinkfest ist. War er nicht. 

Manchmal lachte über seine Vergleiche und manchmal fragte ich mich "wie kann er nur so gehässig sein?" 

Maman konnte ebenso super gut tanzen. Sie ließ kein Fest aus. Als es ihr gesundheitlich immer schlechter ging, vermisste sie das Tanzen. Und als es ihr gesundheitlich schlechter ging, konnte Vater mit ihr nichts mehr anfangen. Er machte keinen Hehl daraus vor uns oder vor ihr zu flirten. Und manche Frauen machten mit.

Erst als ich mit 19 Jahren bei ihm einzog lernte ich Omi Elke kennen. Eine sehr herzliche und natürliche Frau. Sie hatte er richtig gebrochen. Er war etwas ruhiger geworden und trank keinen Rotwein mehr. Er blühte so richtig auf. Irgendwie war er mir fremd. 

Er legte mir Regeln auf. 

"Lerne, oder es gibt Ärger!" und er erkundigte sich immer wie meine schulische Leistung ist, wie ich mich im Krankenhaus so anstelle. Er holte mich oft ab, damit ich nicht "auf dumme Gedanken komme."

Erstbals ich einen Uniplatz bekam und in eine andere Stadt zog, verstand ich mich mit ihm super. Dann war ich für ihn erwachsen und "eine kluge Frau." Dann lobte er mich überall.

Und wenn wir uns stritten sagte er immer "Was bist du nur eine Hexe, wie deine Mutter. Immer das letzte Wort. Schau nicht so böse..... zieh dich nicht an wie eine Flederhex' .....ist das Mode ober ist das dreckig......wenn du rauchen willst, tue es, aber nicht hier und ich will dich nie rauchen sehen....

Zurück zur Musik:

Ich tanze einfach wie es mir in den Sinn kommt und ich tanze gut, soweit es viele beurteilen. Nur ich mag aber keine Feste, auf denen man "sein Können und Wissen zeigen muss" um anerkannt zu werden. Die alten Weiber saßen rings um die Tanzflächen und schauten uns auf die Füße. Die akkurate Jury. Sie wussten wer sie wie bewegte, wer die schönsten Schuhe trug, wer das schönste Kleid anhatte. Sie nahmen auch die Männer unter die Lupe. Da sahen sie nicht nur auf die Tanzschritte, sondern auch wer den knackigsten Po hatte, die schönsten Schultern, den schönsten Anzug.

Ich stehe ungern im Mittelpunkt. Nur wenn es wirklich unvermeidbar ist, nehme ich an Veranstaltungen teil. Zum Tanzen muss ich überredet werden. Ich kann mich nicht immer davor drücken. 

Als wir den alten Schuppen neben dem Haus abrissen, habe ich erstmals die Kisten sortieren müssen. Mit der Zeit wurde aus einem Geräteschuppen ein Ablageort für Erinnerungen. Aus Bequemlichkeit oder aus Zeitgründen stellten wir alles darin ab, bis wir Zeit hatten es zu sortieren.

Danach stellten wir einige Kisten in die Garage. Die müssen nun alle weg, sonst artet es aus wie im Schuppen. 

Immer wenn ich Zeit habe, sortiere ich die eine oder andere Kiste. 

Ich sitze da vor einer Plastikkiste die mit "Maman" beschriftet ist, unfähig den Deckel abzunehmen. 

"Soll ich es für dich tun?" fragte Lars und ich nickte.

Jede Menge Kasetten, CD, DVD kamen zum Vorschein. 

Und ich sah in Gedanken meine Maman Musik hören, Tee trinken und ihre Praxisunterlagen zu bearbeiten. Beichte schreiben, Abrechnungen machen. Jeden Abend nahm sie sich nach dem Abendbrot eine Stunde Zeit dafür. Als ich alt genug war um den Praxisalltag kennenzulernen durfte ich mithelfen um mein Taschengeld aufzubessern. 

Maman hatte unmöglich viele Tee- und Honigsorten, Teetassen, Stövchen und Kerzen. Ich suchte nach einem Kasettenrekorder. Leider fand ich keinen.

Ich bewundere heute noch Maman's Musikgeschmack. Adams, Collins, Meat Loaf.... die Liste wäre unendlich lang.

Und ich sitze da, unfähig nur eine CD in meine Hand zu nehmen. Ich greife in die Kiste und zucke zurück. Maman war ein sehr ordentlicher, sauberer Mensch. Sie verleihte ungern Bücher, CD und persönliche Dinge. Wenn dann  mit der Message "Passt ja gut darauf auf!"

"Wovor hast du Angst? fragte Lars. 

Ich habe keine Ahnung wieso ich Sachen weder von Maman, Omi, Fabian anfassen kann. Ich glaube weder an Mystik noch an die Kirche.

Ich habe eine andere Interprätation für Gott. 

Ich versuche es zu ergründen, aber ich finde keine Antwort.

"Vielleicht weil man im Volksmund sagt...Sie oder ihn, hat Gott zu sich geholt....oder oh da hat aber...der zuletzt Verstorbene sich jemanden ausgesucht und nachgeholt....."

"Ach die blöden alten Weiber reden nur Unsinn. Die sagen das bei jeder Totenwache, weil sie nicht wissen was sie sagen sollen." tröstete mich Papá immer. Mag sein, dass das in meinen Gedanken unbewusst hängen blieb. Verstehen kann ich es selber nicht, wie soll mich jemand anderes verstehen? 

Maman muss Pá sehr geliebt haben, denn sogar seine persönlichen Widmungen lagen noch in den CD- und DVD-Hüllen. Auch eine Musikgeschenke von uns Kindern bewahrte sie sorgfältig auf.  

"Sur mes branches de pensée
Je cherche des moments
comme boutons floraux et bourgeons foliaires
Et je l'ai trouvée dans ces chansons.

Je vous souhaite joyeux anniversaire!"
Marie-Émilia"

Auf meinen Gedankenzweigen
suche ich Augenblicke
als Blütenknospen und Blätterknospen
und ich fand sie in diesen Liedern.

Alles Liebe zum Geburtstag!"
Marie-Émilia

 Das war von 1997 auf einer Collins CD.

" Du könntest doch etwas üben schöner zu schreiben. Mädchen haben doch eine schönere Schrift als Jungs," sagte sie oft. Ich glaube an dem Tag hat sie nichts über meine Schriftzüge gesagt.

Geschenke machten sie immer verlegen. 

Zum Geburtstag habe ich von Lars dieses Jahr unter anderem ein Tablet bekommen. Tante hat gekocht und gebacken. Ich habe das von ihr angenommen, denn man weiß ja nicht ob es ihr nächstes Jahr gut geht. Ich war schon wunschlos glücklich mit allen am Tisch zu sitzen zu können. Mehr brauche ich nicht.

Ich denke an meine Geburtstage zurück wie Maman sich ins Zeug legte für uns. Blaue Ecke für Fabian, rote Ecke für mich. Auch dann als Fabian schrie er möchte sie nie mehr sehen, war trotzdem eine blaue Ecke für ihn gerichtet und ich durfte ihm das Geschenk ihm hinterher tragen. Ich habe ihm an dem Tag wo ich die Nachricht bekam, dass sie tödlich verunfallt ist, ihm eine Ohrfeige verpasst. Ich hätte ihm an dem Tag am liebsten die Augen ausgekratzt. Er stand nur da und sagte: "Spinnst du!?" Dann umarmten wir uns uns weinten alle beide. Er weinte länger....viel länger....und ich konnte in nicht trösten. Nie mehr.

Ich denke er vermisste sie mehr als ich. Er war ihr Liebling. Bei ihm drückte sie immer die Augen zu, wenn er Mist gebaut hatte. Kurz danach erkrankte er heftig, erholte sich von der Endocarditis nur sehr langsam. 

Er war besser als ich. Er war der Herzmensch und ich konnte mit meinen Gefühlen allein aus Angst vor allem und jedem kaum etwas anfangen.

Und heute noch blockiere ich in Herzdingen.

Ich schlage innerlich um mich wie ein verwundetes Tier.

Lars sortierte den Kisteninhalt und sah mich an.

"Das kann alles weg." sagte ich entschlossen. Drei riesige Kisten mit alten Praxisunterlagen müssen noch geschreddert werden. 

Was für Papá wichtig ist von Maman, hat er bestimmt behalten. Lange Zeit hatte er ihren Kleiderschrank nicht leeren wollen und dann hat er irgendwann doch alles aussortiert. 

Oftmals frage ich mich, ob er ab und zu mit Frauen ausgeht. Ihn frage ich nicht. Es ist sein intimes Leben. Da fragt man nicht. Er redet nicht mit uns über sein Herzleben. 

Er nannte uns nie "meine Stiefkinder" sondern immer nur "meine Kinder." Und nun ist er für uns immer da. 

Ich tue mich bei Noelle und Fabienne schwer. Sie haben ihre Mama. Und sie nennen mich beim Vornamen. Sie nennen mich auch nicht Tante.

Bei Noelle fällt man immer noch über Legosteine und bei Fabienne über Bücher. Beide immer noch sehr unordentlich. Bei Fabienne liegen keine Klamotten mehr auf dem Boden. Sie bessern sich tagtäglich. Ich kann ihre Eltern nicht ganz ersetzen, ein Vermissen wird immer bleiben.

Und es wird wie bei mir Auswirkungen auf  Beziehungen haben. Eine Urangst bleibt immer und diese kann zumindest ich nicht bei mir, nicht definieren.


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