Der blaue Faden

Er sitzt da und sieht mich mit schmerzerfüllten großen Augen an. Wir haben die Augenfarbe und die Haarstruktur unserer Maman vererbt bekommen. Meine Haarfarbe ist um einen Ton heller als seine. Ich bin 7 Minuten älter als er und er ist 16 cm größer als ich. 

"Ich kann mit niemanden meinen Dienst tauschen. Du bist doch noch krank geschrieben. Du kannst dich kaum länger auf den Beinen halten. Du ......du siehst aus wie zerkaut und ausgekotzt." schreie ich.

Ich gehe ein paar Schritte weiter  und sehe auf dem Wohnzimmerschrank die Mappe mit den Überweisungen zum Kardiologen, zum Labor und zum Physiotherapeuten liegen.

"Sag jetzt nicht du hattest keine Zeit dahin zu gehen. Ich habe für dich noch einen passenden Termin bekommen."

"Schrei hier nicht herum. Ich habe Kopfschmerzen! Habe nur den zum Kardiologen versäumt. Reg dich ab. Bist nicht Maman."

"Aber ja, ist ja klar. Weißt du was? Du kannst mich mal. Mach in Zukunft deinen Scheiß allein. Du bist auch nie für mich da wenn ich dich brauche. Ich habe genug meinen Scheiß um die Ohren und deinen brauche ich, wissen die Götter, nicht dazu!"

"Ich muss. Du weißt dass ich muss. Ich habe auch Verantwortung. Ich habe Kinder zu ernähren. Du kannst gut reden. Dir geht alles am Arsch vorbei." Seine Stimme, eine sehr schöne Tenorstimme, Vaters Stimme schreit mich an. 

"Ich......" meine leise Stimme versagt....immer noch nach einer heftigen Angina. "Ich habe es satt dir immer zu helfen. Die Mädels haben eine Mutter, du Idiot. Sie hat auch Verantwortung wie du für eure Kinder. Wie Maman immer gesagt hat: du verlässt dich auf andere deinen Dreck wegzuschaufeln."

"Nein! Ich spiele ihr in die Karten. Ich habe mich um die Mädels gekümmert ...und du... sie aber nicht..Nein! Hilfst du mir bitte? Bitte!? Holst die Kleine ab?"

"Ja du Idiot!" schreie ich und knalle mit der Eingangstür. "Mir tun die Mädels leid und du nicht!"

Und wir sehen uns in einem OP wieder. Ich sehe ihn, er sieht mich nicht.

Man erzählt mir von einem Nidus. Ja..ja...denke ich.."Niiiiiduuuus?"

Und wie ich weiß was ein Nidus ist. Es bilden sich Nester um die Blutflüsse.....so poetisch ist es nicht.....Flüsse weden verflochten, verengt, umgeleitet und dann treten sie über die Ufer und überschwemmen alles. Die Gedanken, das Fühlen und das Leben.

Und ich stehe da und sehe auf ein Meer....ein rotes Meer und ich beuge mich über ihn und möchte ihn wecken....sein Herz zum schlagen bringen. Es ist vorgeschädigt....ich weiß es.....aber ich begreife es nicht .....lange nicht dass es keinen Herzschlag mehr hat....für mich....

Es wäre ein Wunder gewesen, hätte man ihn noch retten können.

Was soll ich sagen.....den Mädels sagen......?  Er sieht mich nicht mehr.

Und was ich tun soll kann er mir nicht sagen.

Ich wäre noch geblieben, aber die Kleine wartet auf mich und freut sich noch....dann nicht mehr.

Ich glaube nicht an einen Gott der einen unsichtbaren blauen Faden vom Himmel herunterlässt wie ein Seil, um jemanden zu umschlingen, umknoten und ihn zu sich zu ziehen.

Ich sehe das Nidus. es sieht aus wie ein Schwalbennest um die Aorta gebaut, mit ihr fast verflochten, ich fühle keinen Herzschlag ....ich halte seine kalte Hand und ich sehe sein Blut wie es immer noch aus den roten Flüssen sickert wie Rinnsale.

Um mich herum stehen Kollegen und warten dass ich etwas sage, weine, schreie oder zusammenbreche.

Ich denke aber an meine Patenkinder und was ich ihnen sagen soll. Ich muss die Kleine vom Kindergarten abholen. Ich muss meine Oma anrufen, ich muss René anrufen und ich muss es Oma Elke erzählen. Sie gehört zur Familie. Sie ist irgendwie unser Mutterersatz. Ich muss Freunde anrufen.....ich muss....ich habe keine Zeit zum trauern. Ich muss helfen und nicht geholfen bekommen.

Und alle um mich herum sehen mich verwundert an, erstaunt, erwartend und .....ich weiß es nur nicht....oder ich fühle es nur falsch.....abwertend....kalt.

Was weiß man schon wie jemand fühlt? Wie kann man anmaßend sein, jemandem wortlos nur mit Blicken erklären was er fühlen sollte oder sogar fühlen muss? Und ich muss mich nicht erklären, was in mir abläuft, wie ich versuche nicht zusammenzubrechen, damit man nicht am Kindergartentor auf mich ungeduldig und sehnsüchtig und weinend wartet.

Und Tage später habe ich sogar sein Herz gesehen. Also bitte.....es gibt keine Wolke, keinen Engel und keinen blauen Faden. Keinen Himmelsfaden und wenn es einen Gott gibt, er hätte nichts für ihn tun können. Kein Wunder, oder wie man das nennt, was man von den Göttern erwartet hätte gewirkt.

Nun ja, wir waren Zwillinge. Ich bin nicht allein auf die Welt gekommen und es fühlt sich so an als würde ein Teil meines Herzens fehlen, als würde ich eine Seite neben mir nicht fühlen. Und ja, es gibt keinen Tag an dem ich ihn nicht vermisse. Auch das hat man mich gefragt.....wie man sich als Zwilling fühlt. Nicht so viel Distance steht einem zu, wenn Idioten sich wie Aaßgeier sich auf ihre Beute stürzen.

Nur es gibt keinen blauen Faden an dem er sich als Geist oder als Schutzengel zu mir herunterzieht und mich tröstet, mich begleitet, mich beschützt. Und es gibt auch keinen blauen Faden an dem ich mich hochziehen kann, nur für einen einzigen Augenblick ihm erzählen kann, wie es mir geht und was ich tue.

Ich habe nur eine gefühlte leere Herzseite und ein Vermissen. Mehr habe ich nicht von ihm.

Ja, wie konnte ich sie übersehen.....die Mädels. 

Ich war ein Teil von ihm, der ältere, aber der kleinere Teil. Er war auf eine Art der klügere und liebendere und ich der kindische, lausbubenhafte und ordentlichste Teil von ihm.

Manchmal, kommt nur noch ganz selten vor,  denke ich zu spontan, kommt noch ganz selten, dass ich  ihn anrufen und sagen will, dass die Mädels jetzt im Bett sind und ihm erzählen wie lieb oder unlieb sie waren. Und dann bekomme ich urplötzlich einen schmerzhaften Impuls, als wären meine Knochen gebrochen und ich würde mich bewegen wollen und kann es nicht. Dann denke ich......ach was der blaue Faden gibt es nicht, sei mal logisch.











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