Innere Rückzüge

 Ob ich davor welche hatte? So weit kann ich mich nicht zurückerinnern. Mama erzählte immer, dass ich als Baby schon sehr fremdelte. ch schrie wenn mich jemand außer Maman, mein Vater oder meine Brüder in die Arme nehmen wollte. Wenn sie mit uns in den Urlaub fuhren, konnte ich nicht einschlafen, weil es nicht mein Bett war. 
Als wir  dann zu Oma und Opa zogen, daran erinnere ich mich sehr gut, war alles neu für mich. Nicht nur die alltägliche Sprache, die meine Sprache immer mehr ersetzte, war ungewohnt, obwohl wir ja zweisprachig aufwuchsen, und ich die Sprache kannte. Die ganze Umgebung war ungewohnt. So viele Bäume und Felder und Zäune. Es war November, Morgennebel und es nieselte. Die Erwachsenen führten ernste Gespräche, aber sie lachten auch. Wir Kinder mussten mit dem neuen Spielzeug spielen, das für uns gekauft wurde. ich freute mich nicht darauf, sondern ich wollte wissen was es so viel zu bereden gab und wir Kinder nicht zuhören durften.
Oma konnte erstklassig hochen und Opa hatte so viele Witze für uns, trotzdem gewöhnte ich mich erst nach Monaten an sie, an das Haus, an den Garten mit vielen Bäumen. Ich wollte so oft wie möglich allein sein. Ab und zu schlich ich mich in Oma und Opa's Zimmer und sah mich um. Opa schien viel zu lesen. Dann entdeckte ich ein altes Kirchenbuchin gothischer Schrift.
Ich konnte die Schrift nicht lesen.
Mit dem Buch in der Hand verließ ich das Zimmer und rannte zu Maman, um zu fragen welche Sprache das sei.
Oma und Opa sahen sich gegenseitig an und Maman erklärte mir kurz die Altdeutsche Schrift.
"Ich kann dir sie beibringen. Lesen und schreiben, wenn du magst!" sagte Opa stolz lächelnd.
"Aber richtig!" scherzte Oma. Doch es klang sehr ernst.
Obwohl das Buch schon damals sehr zerfleddert war, durfte ich nicht reinkritzeln. Tat ich aber doch. 
Ich lernte Gothisch und war so stolz darauf. Leider konnte niemand damit etwas anfangen, also war es mit dem Stolzsein auch schnell vorbei.
Oma schwörte darauf, dass sie und Opa wieder zueinander fanden weil, sie das Buch immer im "Rocksackel" hatte. 
Wie auch immer mein innerer Rückzug verhalf mir Gothisch zu lernen. Und da sie mir nicht helfen konnten mit linker Hand zu schreiben, schreibe ich mit der rechten Hand. Ich schreiben mit beiden Händen. 

Ich war so artig und leise, damit niemand schreit oder sich streitet. Ich gewöhnte mich sehr langsam an Oma und Opa und an ihre spontananen Zankereien die so voll mit Liebe waren, auch wenn sie wütend aufeinander waren. Du alter Bock, du Flederhex, Chaib(eine Art Teufel). und wenn Oma ihre Fürze abließ schimpfte er, weil er das unausstehlich fand: "Der Teufel soll dein Arsch hole" und wir Kinder lachten. Ich lachte bevor Opa in Zeitlupe den Kopf zu ihr drehte und schimpfte. Ich wusste was kommt. 
Opa hatte geschlossene TBC und obwohl er nicht ansteckend war und nie wurde, tat er alles, damit die Krankheit nicht erneut ausbricht. Nur das Rauchern ließ er nie. Er rauchte nie im Haus, nie nur vor der Tür sondern nur draußen im Garten und hinter dem Haus.
Eines Morgens fuhr er in den Nachbarsort zum Lieblingsimker Honig, Waben und Honigwaffeln und Bonbons zu kaufen. Als er seinen Henkelkorb in die Küche brachte um auszupacken, fiel im ein 500g Honigglas auf den steingefliesten Boden in der Küche und zerbrach. Die goldene Flüssigkeit verbreitete sich langsam auf dem Boden wie ein Goldsee.
Oma schrie Opa an, schimpfte und fluchte die ganze Zeit mit ihm, während beide bemüht waren den Goldsee mit alten Putztüchern auf die Kehrschaufel zu bekommen und im Dreckeimer, wie Oma den Mülleimer nannte, zu entsorgen. Opa wischte den honigverklebten Boden sauber, als Oma erneut schrie:
"Gib her, ich mach das schon, du zitterst wie ein Lauffrosch." und riss ihm den Schrubber aus der Hand.
Opa legte sich auf den Chaise lounge in der Ecke und war ganz still. ich weinte und wurde auf Oma wütend und schrie was sie mit Opa getan hätte.
Oma sah mich an und legte ihr Putzzeug zur Seite.
"Opa ist stark erkältet und ich bin ihm nicht böse, nur der Dreck geht so schwer wegzumachen. Dann ging sie mit mir zu Opa und küsste ihn geräuschvoll auf die Wange. Ich mussste über das Quietschgeräusch lachen. Alles andere zuvor war vergessen. es war weg.
"So streitet man sich. Ganz lieb streitet man sich."

Ein weiterer innerer Rückzug war in der École élémentaire. Ein Lehrer der Mathematik und Französische Literatur und Grammatik lehrte und der seine Schüler auf Höchstleistung trimmte. Somit wollte er ein gutes Image unter den Lehrern haben.

Auf schüchterne und leise Schüler hatte er es abgesehen.
An der Tafel wollte er jeden Schritt der Aufgabe laut und deutlich erklärt haben.
Ich redete, aber man hörte mich nicht bis in die zweite Schulbankreihe, geschweige denn bis in die letzte "große Eselsreihe" wie er die letzte Reihe nannte.
Und ich musste wiederholen und lauter werden und noch einmal und noch lauter wiederholen. Ich bekam Halsschmerzen und ich wurde wütend und mir war das peinlich und ich wurde noch wütendender und dann musste ich vor die Tür, weil ich kein Wort mehr herausbekam wegen den Tränenknoten auf den Stimmbändern. Ich hatte Panik. Vielleicht kriege ich eine Ohrfeige oder er wirft mich wieder raus.

Am nächsten Tag sprach Maman vor weil ich einen Eintrag in mein Heft bekam.

Und während Maman mit ihm sprach und ihm erklärte, dass er sich mit Stimmgrundlagen und Anatomie beschäftigen solle, saß er da und starrte Maman an und dann lächelte er, Zum ersten Mal sah ich ihn lächeln.

"Du kannst das, Und zeig allen was du kannst, auch wenn du nicht laut sein kannst. Dreh dich um und zeig auf jeden Schritt und jedes Ergebnis mit dem Landkartenstock damit die Großen hinten in der Eselsbank nicht einmal ans Schwätzen denken können, geschweige denn miteinander zu schwätzen."

Und ich war bei dem Lehrer immer mutig und meine Stimme überschlug sich wenn ich an der Tafel erklärte. Und er nickte zufrieden.

Als Opa dann für immer einschlief  wollte ich nichts mehr essen, wollte weder in meinem Zimmer noch irgendwo etwas verändern.
"Hör mal zu: Opa ist tot. Er war nicht ganz so alt, aber er war krank. Wenn das Leben zu Ende geht ist man tot. Da gibt es weder Gott noch irgendwelche Menschenseelen oder Engel oder Teufel. Deshalb trauern wir. Wir vermissen ihn alle. Irgendwann, das kommt mit dem Lauf der Zeit, erinnern wir uns an ihn immer noch, aber wir vermissen ihn nicht mehr so stark. Also man kann alles verändern was man will. Das ist die Endlichkeit des Lebens wie die Geburt der Anfang ist."

Und trotzdem vermisste ich Maman sehr, sehr lange und wollte lange keine Veränderungen und Om wollte nicht einmal dass ich etwas anfasse, was Maman persönlich gehörte. Sogar Papá konnte Oma nicht mehr ausstehen. Und ich konnte nicht verstehen wie man Kirchenbücher in der Kleidertasche tragen kann.
Erst als die Praxisrechnungen sich häuften ließ sie mich Entscheidungen treffen und wir stritten uns so lange bis ich alles so liegen ließ, mich ins Auto setzte und nach Hause fuhr. Ich ließ mich erst bei ihr blicken als es ihr immer schlechter ging und sie aus der Trauer heraus nicht mehr aus ihrem Zimmer wollte, nicht mehr essen wollte und nur noch vor sich hin vegetierte und die Medikamente die ihre Hausärztin gegen mein Einverständnis ihr den ganzem Lebensmut unterdrückten.

Ich habe aus der Trauer heraus so viele falsche Entscheidungen getroffen, bis mein Zwillingsbruder mir ins Gewissen reden konnte und mir jede Menge an Verantwortung und Eigenverantwortung aufdrückte, dass ich keinen einzigen inneren Rückzug wagen kann.

Der innere Rückzug war für mich nicht so, dass ich keine Freunde hatte, oder nicht irgendwo teilnahm, ich ließ niemanden emotional an mich heran. Wenige Menschen fanden meinen inneren Schalter, aber nicht alle konnten ihn vollständig umlegen.





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